Ich bin in Albuquerque bei Guy untergekommen. Guy hatte zunächst abgesagt, mich beherbergen zu können, dann aber doch zugesagt, weil sein Arzt gesagt hat, er solle seinen Hals ruhig etwas mehr bewegen. Er wurde vor zwei Wochen an der Halswirbelsäule operiert. Als ich erfahre, dass er schon 63 Jahre alt ist, bin ich dann doch überrascht, er sieht deutlich jünger aus. Er ist ein Mensch voller Widersprüche, wie ich schnell feststelle. Wifi hat er nicht, als ich mich versuche in ein offenes Wifi einzuloggen, schaut er mir über die Schulter und meint, „das da ist meines“. Das Passwort kennt er nicht, es ist jedenfalls nicht mehr das originale vom Router, geändert hat er es jedoch nie. Nach einer Stunde erfahre ich, dass er Abends auf ein Konzert wolle in seiner Lieblingskneipe, er sei mit ein paar der Bandmitglieder befreundet. Dort angekommen, wird er von keinem der Mitglieder begrüßt und er spricht ganz am Ende einen der Sänger an und meint hinterher, dass der der Netteste sei, der unterhalte sich gelegentlich mal mit seinem Publikum; Freundschaft sieht für mich anders aus.
Ich lerne seine Ex-Freundin kennen, sie sei schon 39 mal seine Ex-Freundin geworden und ob sie wieder zusammenkommen würden wisse er nicht. So wie sie sich verhalten, sieht es danach aus.
Guy ist seit zehn Jahren berentet, hat im Staatsdienst 25 Jahre lang als Bewährungshelfer gearbeitet, mit einigen seiner Klienten sei er heute noch befreundet. Sein Haus ist abbezahlt, die Garage voller Sportgeräte und das Auto ein dicker Pickup, wenn auch nicht der Neueste. Er sei arm meint er, habe in der Krise die Hälfte seines Vermögens, das er in Aktien und Fonds angelegt hat verloren, weshalb er jetzt bei REI (Outdoor- und Sportgeschäft, das im ganzen Land größere Märkte betreibt) wöchentlich 23 Stunden arbeitet. Mir ist unklar, was er mit seinem ganzen Geld macht. Er meint, seine Krankenversicherung sei so hoch, er bezahle jeden Monat 350,- $ dafür.
Abends fragt er mich, ob ich ihm morgen noch bei etwas helfen könne, er habe eine Dachbox für das Auto seiner Schwester geschenkt bekommen und wolle diese gerne abholen, er dürfe aber noch nicht so schwer heben und bräuchte Hilfe. Im Gegenzug wolle er mich dann ein bisschen des zu fahrenden Weges fahren. Ich sage ihm dieses zu. Ein Telefonat mit Doug, meinem nächsten Gastgeber, bringt zu Tage, dass dieser etwa 25 Kilometer vor Grants wohnt, was eigentlich morgen mein Ziel ist. Ich kann aber auch schon einen Tag eher kommen, meint Doug.
Bevor ich zu Bett gehe, erfahre ich noch, dass Guy um 9:00 Uhr einen kurzen Termin hat, den er noch wahrnehmen müsse, bevor wir die Dachbox abholen könnten.
Pünktlich um 9:00 Uhr befinden wir uns am Ostermontag vor einem Seniorenzentrum. In der großen Empfangshalle sitzen an einem Tisch zwei alte Damen mit einem Namensschild an die Brust geheftet, das besagt, dass sie die von einer Art Einkommenssteuerhilfe sind. Mit dieser Einkommenssteuerhilfe hat Guy einen Termin. In der dreiviertelstunde, die wir warten, füllt er einen dreiseitigen Infobogen aus. Ich kann mir in der Zeit das Gebäude ein wenig ansehen. Wer durch den Haupteingang kommt, findet linker Hand ein kleines Fittnesscenter mit allen Kraft- und Ausdauergeräten, die ich kenne. Nebenan ist ein Raum mit Billard-, Snookertisch und Dartscheiben. Am hinteren Ende des Eingangssaals geht es rechts zu den Umkleiden für das Fitnesscenter und rechts in einen Saal, der, wie eine Auskunft neben der Tür mitteilt, für Frühstück und Feste genutzt wird. Nach rechts vom Haupteingang ist ein Flur, in dem man rechts an einem Büro vorbei kommt in dem gerade zwei Pensionäre mit zwei jungen Menschen reden. Ich erfahre später, dass die älteren Menschen die Leitung des Zentrums repräsentieren und die jungen Menschen als Helfer für die Rentner von der Stadt bezahlt werden. Neben dem Büro kann man durch eine Tür in eine Großküche blicken. Am Ende gelangt man in einen Raum, der als eine Art Bibliothek und Lesesaal dient. Dem Büro gegenüber sind drei große Räume angesiedelt. Im ersten sind verschiedene Leute am Malen und Töpfern, er scheint für alle möglichen kreativen Tätigkeiten herzuhalten. Der letzte Raum ist leer.
In den Mittleren Raum werden Guy und ich geführt. An neun Tischen sitzen Senioren in blauen Hemden mit anderen Senioren an Computern und machen die Einkommenssteuererklärung. MJ heißt unsere Betreuerin. Sie geht mit Guy seine Finanzen des Jahren 2015 durch. Nebenbei erfahre ich, dass er für sein kleines Haus im Jahr 2.800,- $ Grundsteuer bezahlen muss, was mich regelrecht schockiert, das ist ein echter Kostenfaktor, der einem das Genick brechen kann. Wir bezahlen in Deutschland etwa ein Zehntel an Grundsteuern als die Amerikaner. Letztes Jahr konnte man noch seine neuen Fenster von der Steuer absetzten, dieses Jahr sind es neue Heizungsanlagen. Er hat seine Fenster ein Jahr zu spät erneuert. Es geht angeblich um den Klimaschutz.
MJ hat im Zentrum einen einwöchigen Kursus mitgemacht, in dem sie gelernt hat, wie man die Einkommenserklärung für Rentner macht und jetzt hilft sie anderen dabei. Nachdem sie alles in den Computer eingegeben hat, kommt Dorothy und schaut sich noch mal alles genau an. Dorothy ist gelernte Steuerfachfrau (so würde man das wohl in Deutschland nennen) und hat mit einem anderen Fachmann die Oberaufsicht. Sie klärt Guy darüber auf, dass er mehr als 1000,- $ Steuern nachzahlen muss, was illegal ist und er mit einer Strafe rechnen muss. Spätestens in zweieinhalb Jahren, wenn er mit 66 Jahren in die öffentliche Krankenversicherung rutscht, werde dies auffallen und sie werden zehn Jahre zurück überprüfen, ob er immer brav seine Steuern bezahlt hat, wenn nicht, muss er für jedes Jahr eine Strafe zahlen. Wenn er dies ab jetzt tue, könnte es ein, das sie nur zwei Jahre zurückverfolgen und er glimpflich davon kommt. Sie empfiehlt ihm, monatlich 50,- $ mehr Steuern zu zahlen.
Das ganze Zentrum wird ehrenamtlich geführt. Die Stadt hat nur das Gebäude gebaut und bezahlt ein paar jugendliche Helfer. Den Rest inklusiver aller Aktivitäten müssen die alten Leute selber organisieren. Jeder kann hier etwas beisteuern und unternehmen, vorbeikommen, treffen, … Es geht hier zu, wie in einem Bienenstock und MJ meint, manchmal seinen einfach keine Parkplätze mehr da: Wegen Überfüllung geschlossen.
Am Morgen habe ich Guy noch einen 5-Dollar-Schein gezeigt, den ich für falsch halte. Auch er entdeckt Unterschiede, hält ihn aber für echt. Trotzdem ist er neugierig und schlägt vor, eine Bank um Rat zu fragen. Nachdem wir zwei Stunden im Zentrum waren, fahren wir jetzt zu der Bank, die neben „Einstein Brother Bagles“ liegt, wo ich gestern den Schein bekommen habe. Die Angestellten beschäftigen sich eine viertel Stunde mit dem Schein, bevor sie zu dem Schluss kommen, dass er gefälscht ist. Ich habe dies mit dem ersten Blick erkannt und zweifle an der Fähigkeit dieser Leute, die hier arbeiten. Ich bin davon ausgegangen, dass Angestellte von Banken viel schneller als nicht Angestellte herausfinden können, ob Geld gefälscht ist oder nicht. Nebenbei erwähnt: Dollar ist nicht meine Heimatwährung.
Es dauert insgesamt eine Stunde, bis das Formular der CIA ausgefüllt ist. Sie trägt meine Adresse ziemlich falsch in das Formular ein, obwohl ich es ihr in Druckbuchstaben aufgeschrieben habe. Bevor ich das Formular unterschreibe, lese ich es mir durch und muss feststellen, dass sie insgesamt etwa fünf Häkchen gesetzt hat und vier Felder ausgefüllt hat. Was hat die die ganze Zeit am Computer gemacht?
Um fünf Dollar ärmer, stiefelt Guy mit mir zu „Einstein Brother Bagles“ und beschwert sich, dass ich Falschgeld angedreht bekommen habe. Ich bekomme als Entschuldigung Essen im Gegenwert von 13,- $ und ein schlechtes Gewissen, die haben mich bestimmt nicht absichtlich über’s Ohr gehauen.
Guy verfällt jetzt auf die Idee, seinen Trailer für das Abholen der Dachbox zu verwenden. Er hat den Trailer noch nie benutzt. Ich packe mein Fahrrad und Gepäck schon mal in seinen Pickup, was etwa zehn Minuten dauert, er hat mit mehr Zeit gerechnet und sich einen Kaffe aufgesetzt. ich werde langsam nervös, ich will heute noch nach Grants. Eine Stunde vergeht, bis wir endlich unterwegs zu der Dachbox sind. Wir kurven durch die Stadt und ich bekomme langsam ein Gefühl für die Richtungen hier, es dauert eine Stunde, bis wir vor dem Haus mit der Dachbox stehen. Ich muss Guy mühsam davon überzeugen, dass seine Art der Befestigung der Dachbox auf dem Trailer mit Gummistrapsen nicht sicher ist und ich nehme ihm die Sache einfach aus der Hand und benutze zwei stabile Nylongurte zum festzurren; er ist beeindruckt. Dann fährt er das erste mal in seinem Leben mit einem Anhänger rückwärts: Seufz. Ich bekomme langsam das Gefühl, es mit einem Kind zu tun zu haben.
Weil die mitgegebenen Schlüssel nicht zu den Schlössern an der Box passen, will er noch zu REI fahren und einen Kollegen um Rat fragen, weil der sowas wie ein Schlosser ist. „Liegt auf dem Weg und dauert ncht lange!“ In mir macht sich ein Gefühl von ´Ich-will-hier-raus´ breit. Während ich mir REI angucke und über die großen Preise staune, kümmert sich Guy um seinen Kollegen und dann um die Box. Dann bekommt er Hunger und steuert Arby´s, eine Fastfoodkette, die ich bisher in jedem Staat der USA in jedem kleinen Kuhkaff gesehe habe, an. Er will mit dem Tacko in der Hand fahren, was ich ihm untersage. Erst essen, dann Auto fahren.
Um 15:30 Uhr setzt er mich an der Abfahrt Correo (34.984590, -107.171166) ab und ich stürze mich auf die Interstate. Der Wind kommt meistens von vorn, ich weiß nicht, wieviel Kilometer bis San Fidel vor mir liegen: Ich fühle mich etwas gehetzt und kann die grandiose Landschaft nicht genießen. Rechts eine weite Ebene, die in drei bis vier Kilometern von einem hohen Abhang begrenzt wird, links steigen die Berge in steilen Abhängen etwa vier- bis sechshundert Meter an. Ich fahre durch kleine, dem Verfall anheim gelegte Ortschaften, Tankstellen aus der Blütezeit der Route 66 liegen einsam da, eine Autoleiche reiht sich an die andere.
Ich habe gesagt, ich bin um 19:00 Uhr in San Fidel, was dann auch ziemlich genau hin kommt. Doug öffnet mir die Tür, öffnet seine Toreinfahrt und geleitet mich hinter das Haus. Dort steht der Wohnwagen aus den siebzigern, in dem ich heute Nacht schlafen kann. Nachdem ich mich eingerichtet habe, kommen wir ins Gespräch. Doug ist Vietnamveteran, hat ein Möbelgeschäft gehabt und bekommt jetzt einen monatlichen Scheck vom Staat, der es ihm ermöglicht, die Winter in Südostasien zu verbringen. Er ist seit zwanzig Jahren berentet. Die ersten zehn Jahre hat er am Anfang eines jeden Jahres immer ein Haus von der Bank aus einer Art Zwangsversteigerung gekauft, es im Sommer renoviert und dann am Ende wieder verkauft, der Gewinn hat dazu gereicht, in Südostasien ein Leben in Saus und Braus zu führen. Dann hat er 2007 dieses Haus für 20.000,-$ gekauft. Es war ein bisschen mehr Arbeit nötig, weshalb er 2008 an diesem ehemaligen Post- und Lebensmittelgeschäft weiterbaute. Dann kam die Immobilienkrise und das Haus wurde unverkaufbar. Jetzt versuche er es schon seit zehn Jahren los zu werden, sitze in diesem ´Scheißkaff´ fest. Die Nachbarn seien die, die nichts gelernt haben, keine Schulbildung besäßen, Donald Trump wählen würden. Alle anderen seien schon lange weg. Den letzten hätte er letzte Woche aus seinem Haus geschmissen, nachdem der gemeint hätte, man sollte Syrien einfach bulldozern. Der meinte das ernst, wiederholte einfach was Trump und dieser noch schlimmere Cruz reden würden. Doug wird laut und aufgeregt: Wie stellen die sich das vor ein ganzes Land flach zu legen? Allein Albuquerque zu bulldozern würde mehrere Jahre dauern, wie soll das mit einem ganzen Land gehen. Krieg ist keine Lösung! „Macht irgendwas! Aber keinen Krieg!!! Krieg hilft kein Stück!!!“ brüllt er fast. Ich bin sprachlos über so viel Empörung und Hingabe, es ist ein einmaliger Moment, an dem man die Sinnlosigkeit eines jeden Krieges emotional begreifen kann, ich wünschte, jeder könnte diesen Moment miterlebt haben.
Wir fahren zum Dancing-Eagle-Casino. Dort würde es den besten Burger der ganzen Staaten geben. Ich betrete das erste mal in meinem Leben ein Casino und bin enttäuscht: In einem großen Raum stehen nur diese elektronischen Spielautomaten. Insgesamt sind etwa fünfzig Personen in diesem Saal und starren hypnotisiert auf das Drehen auf den Bildschirmen; alleine der Anblick dieser Zombies macht es mir unmöglich auch nur einen Cent in diesen Automaten zu beerdigen.
Der Burger ist allerdings wirklich richtig gut, man muss aber auch eine halbe Stunde warten, bis der fertig ist. In der Zwischenzeit erklärt Doug mir die Regeln von Baseball, auf der Leinwand im Bistro läuft gerade LA-Dodgers gegen Texas … (keineAhnungmehr). Die Toppmannschaften spielen im Jahr etwa 170 Spiele.
Auf dem Weg ins Casino erzählt mir Doug von der ewig währenden Feindschaft der Indianer mit den Hispanics. Die Mexikaner wurden, nachdem die Staaten sich gegründet hatten, zunächst nach Mexiko vertrieben. Im gleichen Zuge, wie die Indianer in die wertlosen Landstriche hier vertrieben wurden, wanderten Mexikaner wieder in die Staaten ein, wurden als Arbeiter benötigt. Die Indianer taten dies aus Stolz nicht: für Weiße arbeiten. Die Indianer haben dieses Land immer als ihren Besitz angesehen, haben diesen Anspruch niemals aufgegeben. Nun kamen die Hispanics und wollten ihnen auch noch dieses letzte Land wegnehmen. Sie betrieben Landwirtschaft. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen nahmen schließlich derart zu, dass die Hispanics wieder nach Mexiko exportiert wurden. Die Indianer, die jetzt die Landwirtschaft fortsetzen wollten, sahen sich bald mit den defekten Landmaschinen konfrontiert und holten widerwillig die Mexikaner zurück. Es blieb jedoch dabei, dass man sich nicht mochte.
Die Mexikaner raubten schließlich Indianerfrauen, die nach Mexikostadt entführt und zur Prostitution gezwungen wurden. Die entstehenden Fehden endeten schließlich in einem Massaker in einem Dorf, bei dem auch der Sohn des mexikanischstämmigen Gouverneurs getötet wurde. Dieser wartete ein paar Jahre, bis sich die Gelgenheit ergab, sich zu rächen. Das Dorf der Indianer lag auf einem schwer zugänglichen und gut zu verteidigenden Berg an einem tiefen Abgrund. Nach schweren Gefechten, eroberte der Gouverneur das Dorf und wer nicht freiwillig in den Tod sprang, dem wurden die Füße abgeschnitten. Als dann vor zwei Jahren dem Gouverneur als Kriegsheld ein Reiterdenkmal aus Bronze gebaut wurde, gingen die Indianer hin und schnitten ihm die Füsse ab.
Wir fahren auf dem Rückweg an der Tankstelle vorbei, von der ich auch ein Foto gemacht habe und dort trug sich vor zwanzig Jahren folgendes zu: Der Besitzer der Tankstelle erwischte seine Frau Zuhause beim Fremdgehen mit einem Nachbarn und er erschoss daraufhin den Lover seiner Frau. In der folgenden Gerichtsverhandlung wurde der Besitzer frei gesprochen. Die Frau flüchtete aus dem gemeinsamen Haushalt und wurde ein halbes Jahr später erschossen aufgefunden. Dem Ehemann konnte nichts nachgewiesen werden, jedoch wurde dieser weitere eineinhalb Jahre später ebenfalls erschossen aufgefunden, ohne dass ein Täter ermittelt werden konnte. „So werden die Dinge hier manchmal geregelt“ meint Doug, räumt aber ein, dass das lange her ist und sich schon etwas geändert habe.
Das „Ich will hier raus“-Gefühl kommt ja erstaunlich spät. Ich hätte deutlich vorher einen Vogel gekriegt und wäre abgeflogen. Aber so ist das mit der Gutmütigkeit. Auf was für Schicksale Du da so triffst – bemerkenswert… beeindruckend… traurig machend…
Dazu passt auch das letzte Bild wirklich gut. Was für ein Unterschied zu den „happy people“ im mittleren Westen! Oder den beiden Senioren in Santa Fe.
Dann vielleicht lieber die Wüste ohne Menschen…