Ich sitze in einem Museum, ein Aquarium in Hirtshals. Gerade werden im großen Becken des Oceanariums die Fische gefüttert. Zehn Minuten vor der Zeit begann eine dramatische Musik, zunehmend lauter, die besinnliche Ruhe, die Fische oder Aquarien ausstrahlen können zu stören. Nun berichtet ein Taucher live aus dem Becken, was er da macht. Ich sitze abseits auf einem Podest an einem Tisch vor einem Fenster, blicke in das große Becken und verstehe kein Wort. Jetzt brandet Applaus auf, die Menge scheint zufrieden und verstreut sich, so dass auch ich gleich zufrieden meine Stille wiederhabe.
Ich habe die letzten Tage damit zugebracht zu verstehen, was die Magie des Radreisens ist. Sicher kann dies nur eine vollkommen subjektive Antwort werden. Die Magie des Radreisens. Schon allein die Behauptung, dass es sie gibt, ist subjektiv. Aber ich weiß, dass es sie gibt.
Die ersten acht Tage werden hart, das schrieb ich schon und so sollte es auch kommen; wie bei jeder Radreise, die ich unternommen habe. Da ist zum einen die körperliche Kondition, die einem bei jedem kleinen Hügel an die Grenze des machbaren bringt und so auch jede alle psychischen Reserven in Anspruch nimmt. Da ist kein Platz für tiefgreifende Reflexionen. Was zählt ist der nächste lachhafte 30-Meter-Anstieg. Als ich nach dem Pausentag in Aarhus wieder aufs Fahrrad steige, traue ich zunächst meinen Beinen nicht: Habe ich einen Elektroantrieb bekommen? Mit Leichtigkeit und ein wenig Rückenwind komme ich bald in True an. Den Ort habe ich nur wegen seiner Verwandtschaft zum englischen true gewählt Was sinnlos aber doch spaßig ist und ausgerechnet, als ich dort ankomme meldet sich meine Freundin Jeneane aus den USA bei mir. Ich bin nicht abergläubisch.
Eigentlich wollte ich etwas hinter True bei einem kostenpflichtigen (20 DKK = 3 €) Shelter übernachten. Doch mitten im Ort, hinter dem Dorfgemeinschaftshaus, oben auf einem Abhang steht ein typischer Shelter, so dass ich mich kurzerhand für diesen unbekannten und wahrscheinlich kostenlosen Shelter entscheide. Die eigenmächtige Entsheidung, dass dies ein Shelter und dann auch noch kostenlos ist, beschert mir zu Beginn Unbehagen. Es verstärkt sich, als sich mir zwei Personen, offensichtlich Dorfbewohner, über den rückwärtigen Weg nähern. Lächeln und winken, denke ich und sie winken zurück. Im folgenden Gespräch werden alle meine Bedenken zerstreut, denn die Freude, dass endlich jemand im Shelter übernachtet sei riesengroß, wird mir versichert. Vor einem Monat haben sich die Bewohner des Dorfes zusammengetan und diesen Shelter errichtet, mit einem Verschlag für Feuerholz und noch ungenutzter Feuersschale. Dürften sie ein Foto machen für die WhatsApp-Gruppe? Ja klar! Und dich wolle wirklich kein Lagerfeuer machen? Das WC habe eine Heizung und warm Wasser erhalten berichten sie stolz. WC? habe ich noch nicht gesehen und sie zeigen auf eine Tür im der Rückseite des Dorfgemeinschaftshauses.
Die beiden sehen sich an, tuscheln miteinander und geben mir zu verstehen, dass sie sich das WC noch einmal ansehen werden. Gut so, denn entgegen der absprachen im Dorf war es verschlossen und nicht geputzt, was die beiden in der nächsten halben Stunde geschäftig nachholen. Sie gehen, Daumen hoch mit strahlenden Gesichtern. Sollte ich noch was brauchen, sie wohnen im vorletzten Haus auf der rechten Seite und weist Richtung Dorfausgang: Stille.
Das war ein Funke der Magie des Radreisens. Warum machen Menschen das: ein Shelter bauen? Für Menschen, die sie nicht kennen, die nicht von hier sind, die nicht bezahlen, … Die nichts geben? GEBEN ihnen Feuerholz, um sich in der Kälte wärmen zu können. Eine Gemeinschaft tut sich zusammen und schafft diesen Ort, der mir Fragen aufwirft zur menschlichen Natur. Wieder einer dieser Fragen, die viel zu groß ist, um darauf eine Antwort geben zu können. Ich vermute nur, dass der Shelter an sich ein Puzzleteil der Antwort ist, an der sich Philosophen seit Menschengedenken die Zähne ausbeißen.
Das Fenster zum Aquarium wird ein riesiger Bildschirm in dem in stoischer Gelassenheit Fische ihre Bahnen im grünen Licht ziehen. Bewegungen werden zu Mustern, die ich erkenne und sich doch nie wiederholen. Erkennen die Fische diese Muster? Fragen sie: Warum? Würde es ihnen helfen? Hilft eher die Frage oder eher die Antwort?
Ich lag elf Stunden im Shelter und habe vielleicht fünf Stunden geschlafen, viel gedöst, die Nacht vergeht trotzdem schnell. Es ist kalt, zu kalt zum aus dem Schlafsack kommen; ich bleibe liegen. Um 9:00 Uhr hat die Sonne über den Rauhreif gesiegt, zumindest an den zugänglichen Stellen und bei mir setzt sich die Erkenntnis durch, dass ich mich der Kälte stellen muss.
Die Fahrt wird nur durch einkaufen und häufiges Anhalten zum Filmen unterbrochen. Ich bin früh am Shelter und arbeite am Abo. Die Kälte wird wieder kommen und diesmal beschließe ich etwas dagegen zu tun. Der Shelter bietet alles, was man braucht, um Holz klein zu machen und ein Lagerfeuer zu entzünden. Ich entfache ein Feuer, es gibt mir Wärme gegen die Kälte und Licht in der Dunkelheit. So umfängt mich die Dunkelheit, reduziert die Welt auch den kleinen Punkt in dieser Welt, der vom Lichtschein des Feuers erreicht wird und gibt mir Sicherheit. Hier und Jetzt. Die großen Fragen verlieren ihre Wichtigkeit Ich habe das Feuer gemacht. Es geht mir gut.
Vom Feuer gestärkt starte ich fast euphorisch in den nächsten Tag. Der Gegenwind macht mir nichts aus. Mein Gepäck verrutscht immer wieder auf dem hinteren Gepäckträger, drückt dann immer wieder von oben auf das Schutzblech, dass dann anfängt auf dem Reifen zu schleifen. Nach 15 Kilometern packe ich alles runter, straffe das Gurtband und packe den Gepäckträger erneut. Jetzt hält alles und weiter geht es gegen den (leichten) Gegenwind. Meiner guten Stimmung tut dies keinen Abbruch. In Fjerritslev noch mal einkaufen.
Wenig später, eine Abfahrt hinunter aus dem Wald raus, öffnet sich die Landschaft und gibt die Sicht frei auf die Nordsee, einen diesigen Horizont und Dünen, auf denen das Gras im Wind wogt und Bäume über viele Jahre sich dem Wind gebeugt haben. Ganz plötzlich verlasse ich die gewohnte Geestlandschaft und tauche ein in eine Neue. Es katapultiert mich weg von Zuhause, der Wind kommt jetzt von hinten und schiebt mich mit einer Leichtigkeit – ich kann mich nicht sattsehen, Euphorie. Ich rufe Freunde an, um mit jemanden diesen Moment zu teilen.
Ich sortiere mich am Shelter, Jürgen ruft an. Während wir telefonieren will ich die geladenen Akkus in der Jacke verstauen und finde sie nicht und finde sie nicht und finde sie nicht – Sie ist weg. Binnen Minuten kippt meine Stimmung auf einen Tiefpunkt. Ich habe sie beim Neupacken des Gepäckträgers am Wegesrand zurückgelassen. Frust. Ich esse kurz etwas und gehe um 18:30 Uhr erschöpft zu Bett, es ist noch hell.
Um sieben Uhr wache ich auf. Es ist hell und ich habe zwölfeinhalb Stunden geschlafen. Die erste Nacht seit langem ohne Frost. Ich fühle mich erholt. In der Jacke waren die Gopro-Akkus; ich bestelle Neue. In der Jacke waren die Superhandschuhe. Cecilia ruft an und verspricht sich um Neue zu kümmern. Dicker Pulli mit Regenjacke ersetzt jetzt erst mal die Jacke. Ist vielleiht auch die bessere Wahl, mit der Jacke war ich irgendwie nie richtig zufrieden. Der Verlust der Handschuhe ärgert mich immer noch ein wenig.
Ärgern sich Fische?
Bei Blockhus trifft der Fahrradweg auf den Strand. Ich kann meinen Ärger nicht aufrechterhalten. Wellen brechen sich am Strand, aus dem Nebel schälen sich Dünen heraus und verschwinden in ihm wieder, der Wind schiebt kräftig von hinten, keine Autos, die Menschen kann ich an beiden Händen abzählen: Unwirklich
Das die Dänen mich bisher eher enttäuscht haben, hat auch mit mir zu tun. Ich war noch nicht bereit für sie. Ich war noch viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt, als das anderes in meinem Kopf Platz gefunden hätte; sowas strahlt man auch aus. Hier am Strand wandelt sich etwas. So wie die Dunkelheit am Lagerfeuer die Welt auf einen sicheren Radius begrenzt hat, so weitet die weiße, beeindruckende und eintönige Helligkeit mit dem Rauschen der Wellen die Welt auf eine nicht vorhandene maximale Weite. Ich folge der Wasserlinie, suche den festen Sand und fahre einfach weiter.
In Lønstrup kommt ein Wunsch auf nach Wärme. Zum Shelter zu fahren und dort auf den Abend zu warten kommt irgendwie nicht in Frage. Ein Café wäre jetzt das richtige. Ein warmes Getränk und die Möglichkeit am Computer zu arbeiten ist meine Vision. Ich fahre an einer Töpferwerkstatt vorbei, sehe eine Handvoll Tische.
Vibe heißt auf Deutsch Kibitz. Vibe lebt seit vierzig Jahren, ihr ganzes Leben, auf diesem Hof mitten in Lønstrup, im Herzen dieses Dorfes, dass vor vierzig Jahren bestimmt noch kein Touristenzentrum war. Kilometerweit fährt man durch Ferienhausgebiete in den Dünen. Sie hat die Touristenströme anschwellen sehen und sich angepasst. Sie ist Töpferin und verarbeitet jedes Jahr 8 Tonnen Ton. „Wer weiß wie lange noch“ sagt sie und hält ihre Hände hoch: töpfern ist körperliche Schwerstarbeit. Sie sucht einen Töpfer, der ihr bei der Arbeit hilft, aber die werden in Dänemark nicht mehr ausgebildet und Deutsche Töpfer lassen sich irgendwie nicht dazu bewegen, nach Dänemark zu kommen. Sie hat den Hof zu einer Töpferwerkstatt umgebaut und einen kleinen Cafébetrieb mit eingebaut. Während ich da bin, sind immer Kunden da, es ist Nebensaison; 8 Tonnen Ton
Ich bin mit dem Fahrrad unterwegs, würde gerne etwas warmes trinken und ein paar Stunden im Warmen an meinem Computer arbeiten. Ist das hier möglich frage ich. Und Vibe fragt, ob ich auch Duschen möchte? – Wie? Viele Radfahrer möchten das gerne, wenn sie bei ihr einkehren. Gastfreundschaft mitten n einer Touristenhochburg, wo ich sie am wenigsten erwartet hätte. In einem Wintergarten, der von ihrer Werkstatt abgeht, arbeite ich, gehe zwischendurch duschen, bleibe viel zu lange. Der Mensch ist gut.
Das gehört auch zur Magie des Radreisens, von irgendwo kommt immer ein Licht her. Es scheint ins Herz, dort kann man es sehen.
Zum Abschied gibt sie mir einen Sheltertip. Ich beherzige ihn: Naturskolen. Zwei Atelierhäuser für Künstlerstipendiaten und ein Shelterplatz. Der Wasserhahn ist kaputt: keine Wasser. Ich klopfe an eines der Atelierhäuser. Anna öffnet die Tür und füllt meine Wasserflaschen. Ich habe heut viel zu wenig gegessen, es wird dunkel, ich schlinge ein großes Baguette in mich rein, viel zu wenig. In der hereinbrechenden Dämmerung nähern sich Anna und ihre Künstlerkollegin, in der Hand einen Topf. Ob ich noch Hunger habe? Ein Licht im Herzen.
Am nächsten Morgen bringe ich den Topf zurück als ich abfahre. Anna und ich sitzen noch eine Stunde in der Sonne vor dem Haus und reden über das Leben und die Arbeit. Sie hat in Grönland und auf den Lofoten gearbeitet. Sie ist ganz ordinary mit einem Mann verheirate, wie ich., wir lachen. Am Ende schenke ich ihr meinen Aquarellkasten und die Reisepinsel, sie wird es nutzen. Am Ende bedeutet Freiheit nicht alles zu tun. Freiheit entsteht dann, wenn ich mich gegen etwas entscheide; alle Optionen bleiben dann offen.
Heute um 21:30 Uhr setze ich nach Norwegen über. Der Tag wird also noch anstrengend, denn ich werde um 0:45 Uhr in Kristiansand ankommen. Ich hoffe, ich werde dann an Land fahren. Ich will auch nicht hundert Euro für ein Hotel ausgeben. Ich werde im Dunklen einen Platz zum Zelten suchen. Ich schaffe das.
Fische ziehen an mir vorüber. Ein großer steigt aus den Tiefen senkrecht nach oben.
Wer Vibe helfen kann, meldet sich bei:
onlinekeramoda@gmail.com
Hallo Thomas, war wieder eine schöne interessante morgen Lektüre. Mach es aber bitte nicht zur Gewohnheit Sachen zu verlieren ( Venedig).ich wünsche dir weiterhin gute Fahrt und das du nette Leute triffst. Bis zum nächsten mal. LGM
Guten Morgen, wenn du diese Zeilen liest, hast du die erste Nacht in Norwegen verbracht. Hoffentlich triffst du auch auf so nette Menschen wie in Dänemark. Der Radwanderweg an der Küste ist traumhaft. Einen Teil davon sind wir auch schon gefahren. Wir wünschen dir weiterhin eine gute Fahrt und viele nette, hilfsbereite Menschen. Freuen uns schon auf den nächsten Artikel.
LG Hanne u Helmut
Hi Thomas!
Inland war zuletzt das Stichwort. Ich musste eine Weile in meinen Gedanken kramen und dann war es wieder da „Da ist son Typ, der will mit dem Rad durch die USA fahren“. Ich erinnere mich noch gut an die Schwierigkeiten überhaupt aus NY herauszukommen.
Wie dem auch sei…so richtig kennengelernt habe ich dich dadurch trotzdem auch nicht. Das ich jetzt urplötzlich wieder Nachrichten aus deinem Blog erhalte, muss ja wohl auch Zufall sein?
Mich freuts zumindest und dein Geschriebenes regt sehr zum Nachdenken an. Gefällt mir – weiter so und dir schöne Erlebnisse weiterhin
Gute Tour! Bin sehr gespannt über die weiteren Synchronizitäten des Radreisens.