Ich folge weiter dem Highway 64. In Russellville biege ich um 10:50 Uhr zur Episcopal Church ab. In Pitsboro habe ich ja nette Erfahrungen sammeln dürfen. Nachdem mich der Priester gestern so stehengelassen hat, schauen wir mal, was da so passiert.
Nachdem ich vor dem siebziger Jahre Kirchenbau zum Stehen komme, tritt eine ältere Dame aus dem Eingang. Ich frage sie, ob der Gottesdienst schon angefangen hat und produziere ein bestürztes Gesicht. Sie würden immer Gottesdienst um 11:00 Uhr machen, heute aber um 10:00 Uhr, weil jetzt ein Essen stattfindet und verschiedene Leute über eine Spendensammelaktion berichten würden. Ich solle nur rein gehen, ich würde bestimmt was zu Essen abbekommen. Ich gestehe ihr, dass ich dafür doch etwas zu schüchtern sei. Sie klopft mir auf die Schulter und meint, dann komm mal mit, ich stelle Dir ein paar Leute vor.
Drinnen wird gerade das letzt Lied des Gottesdienstes gesungen. Dann strömen die Leute aus dem Kirchenraum in den Gemeindesaal. Roberta, so heißt die ältere Dame, der ich über den Weg gelaufen bin, stellt mich verschiedenen Leuten vor und wir setzen uns an den ersten Tisch im Raum. Sie bedankt sich bei mir, weil sie gerade gehen wollte und ich sie nun dazu gebracht habe, doch zu bleiben. Mit am Tisch sitzen Sandy, Bob und Carla. Ich werde tüchtig ausgefragt und auch die Frage, wo ich denn heute Nacht unterkommen werde, wird gestellt. Auf mein Schulterzucken reagiert Carla sofort, sie habe eine Freundin in Clarksville, die sie kontaktiert. Als diese sich nach einer viertel Stunde noch nicht gemeldet hat, ergreift sie vor den etwa 100 Leuten einfach das Wort: Stellt mich vor (ich muss aufstehen und mich Jedem zeigen) und erklärt, dass ich eine Unterkunft in Clarksville suche, ob jemand weiterhelfen kann. Ich bekomme in den nächsten Minuten zwei Angebote in Russellville zu bleiben und eine viertel Stunde später, von Shaun ein Angebot in London, das, obwohl es nicht ganz Clarksville ist, ich aber gerne annehme.
Clara hat ein feines Gespür und fragt nach meiner Frau, … oder Mann? Ich erzähle ihr von Jürgen und muss alles nochmal wiederholen, nachdem Sandy und Roberta davon Wind bekommen haben. Ich erfahre dann, dass ich am Pädagogentisch gelandet bin und mir ist dann auch klar, warum von unserem Tisch die meisten Wortmeldungen kamen. Alle drei Damen sind oder waren Lehrer an Schulen oder, wie Sandy, am ortsansässigen College. Dann werde ich ermahnt, mich immer schön bei meinen Eltern zu melden, Carla erklärt mir, dass ihr Sohn mit seinem Freund gerade für ein Jahr in Australien Backpacker-Urlaub macht und sie von daher sehr genau wüsste, wie sich Eltern fühlen, wenn die Kinder in der Welt umherreisen.
Vor der Tür dann ein herzlicher Abschied. Roberta sieht ein wenig traurig aus. Nach der ersten Umarmung erfahre ich, dass sie heute eigentlich zur Chemoterapie gemusst hätte , da die Anzahl ihrer Blutplättchen aber zu niedrig sei, habe man sie wieder nach Hause geschickt. Die folgenden Minuten sind intensive Momente. Diese alte Frau steht mitten im Leben, ihre ganze Gestalt strahlt eine Milde, Güte und Ausgeglichenheit aus, wie ich sie selten bei Menschen zu spüren bekomme. Sie wird sterben oder weiter leben, aber jetzt ist sie hier in diesem Moment und das ist alles, was zählt, dieser Moment ist so angefüllt von dem intensiven Gefühl am Leben zu sein, dass er fast überläuft. Ich nehme sie in den Arm und halte sie ein wenig fest. Es ist, als wenn Energie fließt.
London ist nicht so nah dran an Clarksville, wie ich dachte. Schon 45 Minuten später stehe ich bei Cindy und Lov an der Einfahrt und werde von Levi, ihrem Sohn, empfangen, der gerade mit seiner zukünftigen Frau den Teil des Grundstückes bearbeitet, an dem im nächsten halben Jahr ihr Haus entstehen soll. Geplant ist erst mal eine ganz kleine Bleibe. Levi hat sein Haus in fünf Kilometern Entfernung verkauft und will sich nun hier bei seinen Eltern niederlassen.
Ich verstehe warum. Am Haus angekommen, blicke ich direkt über den Arkansas River. Zwischen Grundstück und Ufer ist in die etwa zwanzig Meter hohe Klippe eine Eisenbahnstrecke als einziger Wermutstropfen eingebaut. Pool, Aussichtplattformen und Bar haben alle eine erstklassige Aussicht über den Fluss, der in der Sonne funkelt.
Ich bin in der Provinz Arkansas angekommen. Die Frauen sind mir gegenüber zurückhaltend, bis auf Cindy, die mir mein Zimmer, Bad und das Haus zeigt. Ich bekomme dann auch gleich erklärt, womit die einzelnen Akteure hier gerade beschäftigt sind. Der Winter sei jetzt vorbei, haben sie beschlossen, weshalb ihre Schwester die Pooltechnik und sie die Aussichtsplattform repariert, ihr Mann an einem Gästehaus arbeitet und Levi mit seiner Freundin an ihrem Bauplatz werkeln. Ich sei bei Jedem Willkommen. Levi verwickelt mich gleich in ein Gespräch und es stellt sich raus, dass das mit den aktuellen Projektbeschreibungen nicht so genau genommen werden muss. Die Männer rotten sich zusammen, weil ein Gast da ist und ein Bier nach dem anderen fließt. Der Nachbar kommt vorbei, Wrad, der Schwager auch, der Räucherofen wird angeheizt und jede Menge Fleisch darin gegart.
Schmutzige Witze werden einer nach dem anderen rausgehauen, im tiefsten Südstaatenakzent. Cindy hat sich mit ihrer Arbeitshose ein paar Tage zuvor in frische Farbe gesetzt, nun hat die Hose genau im Schritt einen weißen Fleck von etwa fünf Zentimetern Durchmesser. Lov ruft ihr immer wieder zu, ob sie schon wieder den Hahn ran gelassen habe und sie hebt dann das Bein, damit man den Fleck richtig gut sieht. Auch, wenn ich es bisher noch nicht erlebt habe, die Amerikaner können richtig derbe sein. Hier ist immer offenes Haus. Die Menschen kommen und gehen und dass ich schwul bin, ist überhaupt kein Problem.
Da passt ihre Einstellung zu Waffen überhaupt nicht in die Welt. Sie fühlen sich einfach sicherer mit Waffen. Außerdem würden sie gerne jagen. Wenn hier, wie in Deutschland alle Waffen eingesammelt werden würden, dann würden sie ihre auch abgeben. Aber solange Kriminelle Waffen hätten, würden auch sie Waffen haben wollen. Sie verstehen, dass ich das nicht verstehe, es sei halt nur so ein Gefühl, meinen sie.
Das Abendessen fällt üppig und lange mit vielen Gesprächen aus. Nach dem Essen verschwinden Levi und Lov auf die Veranda und schnitzen an einem Baumstamm herum, der für eine Band am Grad von Levis Hund gedacht ist, der vor drei Tagen verstorben ist. Ich hole mein Opinel, das ausgiebig begutachtet und für sehr gut befunden wird und dann helfe ich ein wenig mit, bei Countrymusic, die hier schon den ganzen Tag aus irgendeinem der vielen Lautsprecher plärrt. Lov ist der Meinung, ich brauche noch ein Neckknife: Ein Messer, das man in einer Scheide um den Hals trägt und jederzeit greifbar ist und schon schenkt er mir seins, sein Vater will mir seine Baseballmütze schenken, was mich rührt, ich dann aber mit Verweis auf meine begrenzten Platzverhältnisse ablehne, zumal Lov seinen Vater darauf hinweist, wie wichtig ihm diese Mütze ist.
Lovs Vater wohnt seit zwei Monaten mit im Haus. Er ist vor acht Jahren an Parkinson erkrankt und wurde jetzt mit 73 Jahren aus seinem Job gedrängt, was ihm überhaupt nicht passt. „Mit 73 in Rente“, mockiert er sich, er wolle weiterarbeiten. Jetzt sitze er hier, „Womit soll ich mir denn die Zeit vertreiben?“ Seit er nicht mehr arbete, schreite die Krankheit auch viel schneller voran.
Zu fortgeschrittener Stunde, sitzen Lov und ich in der Küche und das Sozialversicherungsthema kommt auf den Tisch. Lov beschwert sich über seine egoistischen Landsleute, denen ich noch nicht über den Weg gelaufen bin. Er versichert mir, dass es sie gebe.
Am nächsten Morgen treffe ich noch Levi und seine Freundin, die heute ihr erstes Tattoo bekommt und entsprechend aufgeregt ist. Dann schwinge ich mich auf’s Fahrrad und bin wieder unterwegs. Auf halber Strecke ärgern mich ein paar Hügel und nach 120 Kilometern bin ich in Fort Smith.
Hallo Thomas! Bin gestern aus dem ND gekommen, kann daher mal wieder nicht schlafen. Glücklicherweise gibt es schon wieder einen spannenden und informativen Bericht von dir. Danke, dass du uns so ausführlich an deinen vielfältigen Begegnungen teilhaben lässt. Ich bin leider so schreibfaul , zumindest wenn ich keinen Stift und Papier zur Verfügung habe, sorry. Liebe Grüße, Recol
Hello Thomas! Thank you for visiting All Saints‘ Episcopal Church yesterday. It was a pleasure to meet you, to have lunch with you and to hear about your exciting biking trip across America. I am happy you are on this adventure; your presence will be a gift to all the people you meet along the way. Best wishes for a beautiful and safe trip!
Peace,
Roberta
Hallo Thomas!
Da hast du ja wieder nette Leute kennen gelernt. Carla fand ich besonders nett. Endlich hört man von jemanden, der genauso tickt wie ich. Und, tickt Australien schon im deinem Kopf?
Was machen die Mülleimer? LGM
Herzliche Grüße unbekannter weise an Carla, wenn sie dies lesen sollte, von Mutter Rita.
Ja die Episcopalen…. Immerhin ist ein Viertel der amerikanischen Präsidenten aus den Reihen dieser Gemeinde. Kam das auch zu Wort? Die waren wohl eher erfreut, mal jemanden wie Dich kennenzulernen, wie Du es ja ausführlich beschreibst – nette Leute!! Da macht der Sonntag seinem Namen alle Ehre 🙂