Anderson – Atlanta

Es war schon etwas merkwürdig, die Stimmung in der Bücherei. Ich fühlte mich nicht wirklich willkommen. Aber eigentlich war es mir auch recht, dass ich ignoriert wurde, so konnte ich in Ruhe vor mich hinarbeiteten. Am Ende ging ich zum Tresen und überreichte der Dame dahinter zwei Dollar als Spende, weil ich hier in Ruhe arbeiten konnte. Die Reaktion war krass: Ein Aufruhr ging durch die Anwesenden, großes Danke und Ach und Danke. Die Anwesenden warfen sich überraschte Blicke zu. Draußen habe ich erst mal eine Banane verzehrt und bin dann noch mal rein, weil draußen kein Mülleimer war. Mein Rad ließ ich diese Minute alleine draußen stehen.

Nach etwa 500 Metern auf dem Rad hält neben mir ein alter VW Passat und im Auto sitzt das dicke Kind mit der noch dickeren Mutter, die auch in der Bücherei war und fragt mich, ob ich obdachlos sei und sie mir eine Unterkunft für die Nacht geben dürfe. Meine erste Reaktion ist: „No, I am not!“ Doch dann denke ich nach, ob ich nicht eigentlich doch obdachlos bin in diesem Land. Die Dicke entschuldigt sich und braust davon. Nachdem ich zu dem Schluss gekommen bin, dass es eine nette Geste gewesen ist und ich nicht so schroff hätte reagieren sollen, hänge ich dem Gedanken nach, was mich so vertrauenswürdig macht, dass wildfremde Menschen mir ihre Haustüren öffnen und mich bei ihnen übernachten lassen.

Ich brauche einen Computer, um mich mit Couchsurfing zu verbinden. Ich habe einige Zeit darauf verwendet, mein Profil auf Couchsurfing aufzubauen. Ich habe Couchsurfing 20,- € dafür bezahlt, dass sie mich verifizieren, das heißt herausfinden, ob ich tatsächlich dort wohne, wo ich es angegeben habe, und ob ich ein Bankkonto habe und ob die Telefonnummer die richtige ist. Eine Adresse, ein Bankkonto und eine Telefonnummer von einer unabhängigen Instanz überprüft. Kate meint dazu, sie achte viel mehr darauf, was die Leute ihr über Couchsurfing schreiben. Ihr ist wichtig, dass sie ein Gefühl dafür kriegt, was für eine Person ihr da schreibt, ist das Profil so ausgefüllt, dass man eine Person dahinter wahrnimmt und hat die Person mein Profil gelesen.

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Um 17:30 erreiche ich Steven und Jeane. Sie wohnen in einem etwas in die Tage gekommenen Haus an einem kleinen Stausee. Da der Damm einer Reparatur bedarf, musste das Wasser vor einem halben Jahr aus dem See abgelassen werden, weshalb sich jetzt eine schlammige Fläche hinter dem Haus ausbreitet. Im Moment würde sich der Kreis (County), dem der See gehört, noch mit den Anliegern streiten, wieviel diese von den Reparaturkosten tragen müssten. Die Anlieger sind natürlich der Meinung, dass der Kreis 100% der Kosten übernimmt. Die Klärung dieser Frage kann wohl noch eine geraume Zeit in Anspruch nehmen und so geht Steve davon aus, dass erst nächstes Jahr mit der Einholung der Kostenvoranschläge begonnen werden kann und wenn alles gut läuft, können sie in zwei Jahren wieder baden und Kanufahren.

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Steve hat Parkinson, das hat er in seinem Profil schon angekündigt. Ich erwarte einen klapprigen alten Mann mit eingefrohrener Gesichtsmimik, werde aber von einem quicklebendigen Mann überrascht, der mein Fahrrad geschwind die vier Stufen auf die Veranda hochgetragen hat. Er habe die Diagnose vor acht Jahen erhalten und seitdem drei Mal die USA mit dem Fahrrad von West nach Ost durchquert. Er geht offen mit seiner Erkrankung um und kennt die neuesten Studien. Er weiß, dass nur hartes Training Parkinson verzögern kann. Ihr Haus ist auf zwei Ebenen in den Hang gebaut und damit ungeeignet für den weiteren Verlauf seines Lebens. Sie haben deshalb die Möglichkeit ergriffen und das seit zwei Jahren leer stehende Nachbarhaus gekauft.

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Hans ist derjenige, der es für die beiden renoviert. Hans wurde vor 25 Jahren von seiner damaligen amerikanischen Firma in die USA geholt. Mittlerweile bezeichnet er sich als Aussteiger. Seine amerikanische Frau würde gerne nach Deutschland zurück, dort gebe es mehr Sicherheit, ihn aber hält irgendwas in den USA. Sein letzter gut bezahlter Job ist fünf Jahre her und es war ihm nicht gelungen, in der Wirtschaftskrise einen neuen zu bekommen, das Alter sei  ein Problem gewesen, Computerfachleute stellt man sich jung vor. Irgendwann habe er genug von der schlechten Stimmung gehabt, die ihm die Jobsuche bereitete und sich entschieden, die Dinge zu machen, die er machen möchte. Jetzt gibt er Englischunterricht für die deutschen Kinder gut betuchter Einwanderer, renoviert Häuser und spielt zwei mal die Woche in der Fußgängerzone Geige: Reich wird man nicht, aber es reicht.

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Leider ist der Ehemann von Jeans Schwester ein paar Tage zuvor verstorben und meine beiden Gastgeber müssen nachts das Haus verlassen und sich auf den Weg zum Flughafen in Charlotte machen, um von dort nach Kanada zu fliegen, wo die Schwester lebt. Ich habe etwas Probleme, den Sachverhalt zu verstehen, da ich mich die ganze Zeit frage, was dann mit mir ist. Irgendwann wird mir dann klar, dass ich dann alleine im Haus sein werde. Hans wird zum Frühstück da sein und hinter mir abschließen. Was für ein Vertrauen.

Als ich dann Zähne putzen will und meine Tasche öffne, liegt da ein zwanzig Dollar Schein, von dem ich mir absolut sicher bin, dass der nicht von mir ist. Ich frage Steve und Jeane, ob sie mir den in die Tasche gesteckt haben, was beide verneinen. Mir fällt die Bücherei in Williamston wieder ein, und dass mein Fahrrad etwa zwei Minuten unbeaufsichtigt vor der Tür stand. So kann es einem gehen, in den USA; ist das nicht auch ein zauberhaftes Völkchen?

Ich darf mein Fahrrad in seinen Kombi schmeißen und er fährt mich den steilen Berg bis zur Hauptstraße (immerhin fünf Kilometer) hinauf. Von da geht es dann 110 Kilometer bis nach Athens, Georgia (Das ´Georgia´ muss man hier immer dazu sagen, sonst weiß keiner was man meint). Die Sonne scheint, der Wind kommt gemäßigt von hinten, so gleitet man durch die Landschaft und bekommt nicht mit, dass man einen Sonnenbrand bekommt.

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Ein Buick schert vor mir auf den Seitenstreifen und ein Mann mit Pferdeschwanz springt herus, stellt sich mir in den Weg und will die ganze Geschichte hören: New York – San Francisco, … Er reißt die hintere Tür des Autos auf, das seiner Freundin gehört und zeigt auf sein Gepäck: Alles Fahrradtaschen. Er würde gerne mit dem Fahrrad um die Welt fahren, erledige in der Stadt alles mit dem Rad und spart jeden Cent. Die Leute hier würden ihn alle nicht verstehen, engstirniges Volk, schimpft er. Er heißt Andy und hat nach dem Mauerfall fünf Jahre in Berlin als Bauarbeiter gearbeitet. Er wisse selber nicht, warum er wieder in die USA zurück sei. In Deutschland sei es definitiv besser gewesen, hier gehe es immer nur ums Geld.

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Winterville ist ein Vorort von Athens, Georgia, einer der Vororte, in denen die großen Häuser stehen. Nicht die ganz großen, aber schon ziemlich groß, so um die 300 qm Wohnfläche ohne Garage, die stehen hier als extra Häuser herum. Kate, meine hiesige Dachgeberin, fängt mich auf der Straße ab, sie wollte gerade mit Benitt in den Park, damit er dort ein wenig spielen kann. Benitt ist eineinhalb Jahre alt und zunächst recht zurückhaltend. Während wir die ersten Gespräche über Psychiatrie führen, Kate ist Psychologin, hat sich selbständig gemacht und schreibt gerade an ihrer Doktorarbeit, müssen wir Benitt immer im Auge behalten, da er ohne zu Fragen immer wieder auf Entdeckungstour geht. Besonders haben es ihm die vier Jungs auf dem Basketballfeld angetan, die beobachtet er mit Hingabe.

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Bei Kate bin ich es, der viel erzählen muss und der viele Fragen gestellt bekommt. Wie funktioniert die Psychiatrie in Deutschland? Was? Wir haben Patienten, die über zwei Monate bei uns sind? Hier in den USA werden die Patienten spätestens nach zwei Wochen entlassen, wer seine Medikamente nicht nimmt, landet früher oder später im Knast. Ich erzähle ihr von der neuen Rechtsprechung in Deutschland, und von meiner großen Sorge, dass dies in Zukunft auch bei uns so werden könnte.

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Am nächsten Morgen spüre ich mich abgeschlagen. Wahrscheinlich der Sonnenbrand, der mir zu schaffen macht. Kate bietet mir nach einem Blick auf meine Strecke an, mich auf die andere Seite der Stadt zu bringen. Dadurch verkürze ich mein Tagessoll immerhin von 110 auf 90 Kilometer. Der Weg ist quälend lang. Der Wind kommt mir entgegen, die Hügel sind langgestreckt und mit 345 Metern erreiche ich heute den höchsten Punkt der bisherigen Tour. Die Beine sind schwer, das Zählen der Kilometer nimmt kein Ende:
– die ersten 10 Kilometer sind geschafft
– 15 km = 1/6 der Tagesstrecke
– 18 km = 1/5 der Tagesstrecke
– 23 km = 1/4 der Tagesstrecke ist geschafft
– 30 km = 1/3 der Tagesstrecke
– 45 km = 1/2 der Tagesstrecke
– 60 km = 2/3 der Tagesstrecke
– 67 km = 3/4 der Tagesstrecke ist geschafft
– 72 km = 4/5 der Tagesstrecke
Es fängt an zu regnen und ich stelle mich eine halbe Stunde unter. In leichtem Nieselregen fahre ich dann weiter und muss feststellen, dass sich der Wind zu meinen Gunsten gedreht hat. Jetzt geht es leichter voran und um 17:00 Uhr erreiche ich Atlanta.

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Ich habe jetzt in 9  Staaten der USA übernachtet:
– New York
– New Jersey
– Pennsylvania
– Delaware
– Maryland
– Virginia
– North Carolina
– South Carolina
– Georgia

9 Replies to “Anderson – Atlanta”

  1. Wolfgang

    Also auf Obdachlosigkeit zu kommen ist wirklich krass! Aber immerhin bist du auf viele nette Menschen getroffen, die irgendwie auch eine Verbindung zu unserem Land haben und das auch entsprechend reflektieren können…
    Was macht der Sonnenbrand? Fährst du jetzt als red skin durch Georgia? ? Ich denke, die Einwohner können unterscheiden ?

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  2. Werner Jürs

    Da hast du ja nette Leute wieder kennengelernt. Die 20 Dollar Sind ja überraschend gekommen, oder vielleicht auch nicht. Denn du warst ja bestimmt freundlich. Habe heute nicht viel Zeit, muss noch die Torten fertig machen. Ich wünsche dir eine gute Erholung und pass auf die Sonne auf. M

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  3. hanne hartung

    Hab mir schon Sorgen gemacht als kein neuer Bericht kam.Ich werde mein Rad auch mal so
    abstellen.Vielleicht finde ich dann auch 20Euro.
    hast Du schon mal was von Sonnenschutzcreme gehört.

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  4. Theresia Potthoff

    Vielen Dank für Deine Berichte. Lese sie jedes mal mit großem Interesse. Wünsche Dir weiterhin alles Liebe und Gute. Vor allen Dingen immer wieder nette Leute und nette Begnungen. Bis bald LG Theresia.

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  5. Elke

    Die Sache mit den 20$ ist echt klasse! In Berlin wärst du nicht um ein paar Dollar reicher, sondern um ein Rad samt komplettem Gepäck ärmer gewesen, hättest du dein Hab und Gut auch nur 30 Sekunden aus den Augen gelassen …

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