McKenney – Henderson

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Das amerikanische Architekturideal. Kirche mit Kriegsheld.

Der stärkste Eindruck im Moment ist immer noch der Start heute morgen: Es war KALT! Ohne Frühstück fahre ich los, da ich noch keine Lebensmittel gefunden habe, die meinen Ansprüchen genügen (ich kann mich immer noch nicht dazu durchringen, diese Lebensmittel zu kaufen, deren Nährwert man meiner Meinung nach irgendwo zwischen einer Tapete und der Wand suchen kann). Das Problem wird sein, dass man keine anderen Lebensmittel kriegen wird. Also, jedenfalls musste ich die ersten zwanzig Kilometer ohne Frühstück zurücklegen, bei, wie ich jetzt rausbekommen habe, -6°C und Gegenwind. Es geht zwar meist bergab, das ist aber gar nicht so gut, der Gegenwind bremst mich auf 20 – 25 km/h ab. Gestern habe ich noch regelmäßig die 45 km/h-Marke geknackt. Die fehlende körperliche Aktivität kühlt zusätzlich aus. Nach und nach packe ich immer mehr Kleidung auf: Zweites Paar Handschuhe, dicke Socken, Helm weg, dafür Strickmütze auf, dritter Pullover: es bleibt KALT. Was ist das da nur in meinen Handschuhen an den Fingerspitzen? Ist der Handschuh eingefroren? Nein es sind die Fingerspitzen; ich fühle sie einfach nicht mehr.

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Die amerikanische Architekturrealität

Gestern war aber noch alles gut. Ich finde gleich hinter McKenney ein kleines Motel, das zehn Dollar günstiger ist, als das eigentlich anvisierte drei Kilometer weiter. Über Motels habe ich im Vorwege viele Dinge gelesen, die einen erst Mal misstrauisch stimmen: Dreckig, kaputt und unfreundlich. Auf mein klingeln in der spaakig riechenden Rezeption kommt aus dem Backroom ein Inder im Sari (hätte ich hier jetzt nicht erwartet) und vermietet mir ein Zimmer für 45$. Alles Weitere übernimmt seine Frau, die ebenfalls im Sari jetzt nach vorn kommt. Sie will meine Führerscheinnummer notieren, den ich nicht dabei habe. Sie ist völlig entsetzt, sie können doch nicht ohne Führerschein Fahrradfahren. Sie bringt dies so ernst hervor, dass ich bis heute zweifele, ob sie nicht recht hat. Es sind diese kleinen Begebenheiten, die Einem zeigen, wie weit dieses Land vom Radfahren entfernt ist.

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Der Moment, als ich das Zimmer aufschließe, ist spannend, was erwartet mich jetzt: Ich habe schon den Geruch von Schimmel in der Nase, bevor ich überhaupt etwas sehe. Ich bin dann doch überrascht: Alles ist neu, neues Bett, neue Auslegeware, neue Farbe an den Wänden, neuer Fernseher, …  Nach New York, das erste Bad, in dem der Fußboden gefliest ist. Eine von diesen merkwürdigen Duschwanneneinbauten, wie ich sie hier schon so oft gesehen habe. Ich bin froh, dass ich das System schon in Richmond erklärt bekommen habe, sonst hätte ich, wie schon drei mal vorher, mich wieder anziehen müssen, um nach der Funktionsweise der Dusche zu fragen: Man hat einen Einhandhebelmischer, der sich nur in eine Richtung drehen lässt. Man dreht, bis es voll aufgedreht ist, dann mischt die Armatur immer mehr warmes Wasser dazu, je mehr man weiter dreht; die Dusche bleibt dabei immer auf volle Pulle. Ich weiß, Ihr denkt auch gerade an Wassersparen. Geht hier aber nicht.

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Neben der Tür hängt eine kleine Klimaanlage, die Bedienung ist intuitiv. Sie soll dem ungeheizten Raum erst mal Dampf machen, was sie auch tut, mit einer dem Schlaf unzuträglichen Lautstärke; einziger Wermutstropfen. Ich tüftle an meinen Wegstrecken, die ich jetzt entlang der Highways plane. Highways sind vom Verkehrsaufkommen doch eher mit Landstraßen in Deutschland vergleichbar, aber schon so gebaut, dass sie die gröbsten Hügelkuppen und tiefsten Stellen der Bachläufe abmildern, was meiner Stimmung beim Fahren doch recht zuträglich ist. Die kleinen Nebenstraßen produzieren deutlich mehr Strecke und unterscheiden sich von den Highways doch nur durch die oben genannten Eigenschaften, ansonsten sind sie gleich breit.

Um 21:00 Uhr liege ich in der Waagerechten und schlafe ein. Um 22:00 Uhr wache ich wieder auf und kriege einen Schreck, da ist jemand im Zimmer. Doch nicht. Die Wände scheinen aus Papier zu sein. Im Nachbarzimmer unterhalten sich zwei Männer, dann telefonieren sie und ich kann sogar die Frau am anderen Ende hören: Noch ein Wermutstropfen…

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Ich fahre entlang des „historic Highway 1“. Das Land hier ist auch dadurch historisch, dass hier der Bürgerkrieg getobt hat. Alle paar Kilometer kommt ein Hinweisschild auf ein Schlachtfeld und einen Kriegshelden. Allerorten ist die Flagge der Konföderierten zu sehen. Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, eines der Schilder zu lesen, so weiß ich leider nicht, an was hier erinnert wird: An den verlorenen Krieg oder die gewonnene Einheit und Beendigung der Sklaverei. Besonders viele dieser Tafeln erinnern in und bei Petersburg an den Krieg. Hier fand eine wichtige Schlacht im Bürgerkrieg statt, die für beide Seiten sehr verlustreich war. Ich denke immer wieder an den Deutsch-Dänischen Krieg, der zur gleichen Zeit in Schleswig-Hostein tobte. Er findet nicht im gleichen Maße öffentliche Aufmerksamkeit, wie der Bürgerkrieg hier. Der war aber auch bei weitem nicht so verlustreich, wie der Amerikanische Bürgerkrieg, der als der erste mit industriellen Mitteln geführte Krieg in der Geschichte der Menschheit gilt.

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Biberburg

Um 7:30 Uhr heute morgen bin ich auf der Straße. Zwanzig Kilometer quäle ich mich durch die Kälte, bis ich einen „Family Dollar“ Markt finde und versuche, geeignete Lebensmittel zu finden, was sehr schwer ist. Nach fünf Minuten in diesem Laden möchte ich schreien, vor Schmerzen, die mir die auftauenden Finger und Füße bescheren. Mein Frühstück besteht dann aus fünf Cookies, was auch nicht gerade ideal ist und Saftschorle, die so kalt ist, dass es mir jedes Mal in die Stirn zwiebelt, wenn ich einen Schluck trinke. das Phänomen kannte ich bisher nur vom Eisessen.

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Es stinkt wirklich!

Nach weiteren 25 Kilometern gebe ich auf und gehe in einen McDonald, um meine Lage zu überdenken. Ich habe mir den Track auf meinem Navigationssystem angeschaut und frustriert festgestellt, dass ich erst einen viel kleineren Teil der Tagesstrecke zurück gelegt habe als gedacht.

Während ich überlege, welchen Dreck ich jetzt in mich reinschaufeln werde, legt sich eine Hand auf meinen Unterarm: „Excuse me, you are not really travelin by bike?“ Hillary Clinton schaut mich an. Es ist natürlich nicht Hillary, aber Ähnlichkeit haben die beiden schon. In meinem Herzen geht die Sonne auf: Ein Opfer! Ich lade sie gleich ein, mit mir an einem Tisch zu essen. Daraus wird ein einstündiges Gespräch. Wir unterhalten uns über Krankenversicherungen, Präsidentschaftskandidaten, Schulbildungssysteme, Flüchtlingskrise, Lebensläufe, … Janice ist auf dem Weg nach Hause. Sie kommt von einem Kongress in Charlotte und will jetzt zu ihrer Familie nach Anapolis. Sie ist Halbtags-Lehrerin an einer Highschool. Sie drückt wieder ihre Bewunderung für den Umgang der Deutschen mit der Flüchtlingskrise aus. Sie habe die Deutschen nie so menschlich und warmherzig erlebt, wie dies in diesen schwierigen Zeiten der Fall ist. Überhaupt, habe sich das Bild der Deutschen seit der Fußballweltmeisterschaft sehr geändert. Wir könnten feiern und sind bereit, von unserem Reichtum abzugeben. Ganz so einfach ist es dann wohl doch nicht, erzähle ich ihr. Sie möchte mehr über meine Kunst wissen, meine Arbeit in der Psychiatrie und am liebsten auch über den Umgang mit Autisten an Jürgens Schule. Sie ist Sympatisantin von Bernie Sanders, werde aber Hillary Clinton wählen. Sie sei die richtige in dieser Situation. Die USA steueren aber auf ein Fiasko zu. Wenn Donald oder Bernie das Rennen ins Weiße Haus gewinnen, befürchte sie einen neuen Bürgerkrieg. Hillary sei die richtige, die begonnenen Reformen im Gesundheitssystem moderat auszubauen und zu festigen, ohne die Gegner zu endgültig zu verprellen. Denn die Gefahr bestehe gerade, das die Ultrakonservativen (5% der Bevölkerung → 25 – 30% der republikanischen Partei, daher der große Einfluss) der Zentralregierung ihre Anerkennung entziehen. Für diese Klientel war Barak Obama schon eine Zumutung. Sie fragt, wie es sein könne, dass ein zivilisiertes Land wie die USA noch immer keine richtige Krankenversicherung habe, die USA seien auf dem Stand Deutschlands vom 19. Jahrhundert.

Das hat mir gefehlt. Nach diesem Gespräch steige ich auf’s Fahrrad, fahre 200 Meter, steige wieder ab und halte den Daumen raus. Nach zwei Minuten und zehn vergeblichen Versuchen, ein Auto zur Mitnahme zu bewegen stöpsel ich mir Musik in die Ohren und fahre los. Ein Metalsong zu Beginn ist genau das Richtige.

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Immer wieder zu sehen: die ausgedienten (?) Traktoren am Straßenrand

Ich fahre einfach und die Stunde bei McDo hat die Temperatur scheinbar steigen lassen: Mir ist nicht mehr so kalt. Ich fahre halt einfach immer weiter und bei Kilometer 95 schaue ich mal aufs Navi und stelle fest, dass ich nur noch 15 Kilometer vor mir habe. Um 16:10 Uhr erreiche ich mein Tagesziel Henderson und mache unter den vier an einer Kreuzung stehenden Motels eine Preisumfrage. Ich komme für 45€ unter: Nicht so neu wie vergangene Nacht, dafür größer und besser geheizt.

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Realität

9 Replies to “McKenney – Henderson”

  1. Jeneane

    Es war Heute verdammt Kalt 🙁 Es soll auch noch kaelter warden, and sogar Schnee geben von Montag auf Dienstag… Ich hoffe das du die Kaelte entwischen kannst, da du mehr ins Suedlichen Raum bald hinein faehrst.

    Tja…das lekkere „Micky D’s“…Da ist ja der „Whole Foods“ wohl noch was fuer’s Nachtliche Traumen… Ich war wieder dort, hat mir leckeres Zeug eingekauft.

    Ich geniesse deine Geschichten und lerne dadurch selbst ein bischen mehr von Amerika 😉 Weiter so Thomas!
    Be safe!

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  2. Wolfgang

    Oh ja, die Kälte! ich hatte ja ebenfalls gehofft, dass der Kelch an dir vorbei geht, aber es ist halt ein Unterschied, ob du mit dem Fahrrad oder eben amerikanisch im Auto unterwegs bist.
    Und die Landschaft, so wie du sie uns per Bild vermittelst, ist ja auch nicht so richtig motiv(ierend). Und dann kein richtiges Essen – au weia!

    Immerhin ist mir jetzt klar, warum du dein helmut-Schmidt-Buch mitgenommen hast: aufklärungsarbeit! aber Hillary schafft das auch ohne! ? deshalb auch gleich nach Kalifornien geschickt! die Männerriege der Präsidentschaftskandidaten ist definitiv erschreckend, mal sehen, wer das Rennen macht!

    Thomas, wir sind ganz dicht bei dir. und du bist wieder einen Staat weiter: North Carolina!

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  3. Werner Jürs

    Hallo! Habe mir deine Tour und Henderson angeguckt, und freue mich, das du Hillary, die falsche zwar, getroffen hast. Eure Diskussion hat dich wieder aufgebaut und ich hoffe, das du weiterhin solche netten Leute triffst. Über Politik können wir zu Hause reden Mir geht schon ganz schön viel durch den Kopf. Freue mich schon darauf, meine Gedanken mit dir auszutauschen. Dein Family Dollar hab ich auch gefunden. Tröste dich den Wintersportlern in Kanada geht es auch so. Es wurde eine Reportage im Markt gedreht und gezeigt wie die Mädels sich über den Fr…. aufregten. Einige Verpackungen haben sie gezeigt und ich habe mit den Ohren geschlackert.
    Hoffe das es nicht kälter wird. A. L. M+V

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  4. Elke

    In den Gegenden, in denen ich so in den USA unterwegs war, gab es in bestimmten Supermärkten schon Essbares, z.B. für Frühstück auch Bio-Muesli ohne Zucker-Overkill. Allerdings war ich meist in größeren Städten bzw. dichter besiedelten Gegenden unterwegs. Das mag ein Unterschied sein zu der Gegend, in der du zur Zeit radelst. Ich wünsche dir jedenfalls besseres Futter und steigende Temperaturen!

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  5. Elke

    Noch eine Anmerkung zum Führerschein. Der ist in den USA, wo es kein Meldewesen und somit auch keinen Personalausweis gibt (einen Reisepass lässt sich nur ausstellen, wer ins Ausland reist, und das sind nicht so viele), DAS Dokument schlechthin, um sich auszuweisen. Ich brauchte ihn neulich in New York sogar, um einen Audio-Guide im Museum auszuleihen. Die einzige Foto-ID, die anerkannt wurde …

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    1. patricia

      Die spinnen eigentlich nicht. Andere Laender, andere Regeln. Fuehrerschein ist eben aequivalent zum Personalauweis, den es hier nicht gibt, ebensowenig wie eine Meldepflicht. Viele AmerikanerInnen finden es absurd und uberwachungsstattlich, dass man sich in Deutschland bei den Behoerden mit seinem Wohnort anmelden muss. Und die meisten AmerikanerInnen haben keinen Reisepass. Du hast das wahrscheinlich falsch verstanden, dein Reisepass ist ein gueltiges, anerkanntes Ausweisdokument fuer Auslaender.
      Noch viel Glueck weiterhin mit dem Wetter (hier ist es noch viel kaelter dieses Wochenende, New Yorker wurden offiziell gewarnt, am Wochenende nicht laenger nach draussen zu gehen, und gebeten, sich um alte und kranke Nachbarn zu kuemmern).
      Wurde raten, ene spezielle Farhhradmeutze fuer unetr den Helm zu besorgen, die wind-dicht ist – das habe ich mmer na, wenn ich mal um den Gefrierpunkt fahren muss. Und unbedingt schwitzen vermeiden, weil man danach dann superkalt wird. Keine Baumwolle auf der Haut – das weisst du ja sicher? Nur Wolle oder besser Funktions-polyester.
      Und gib nicht auf, nach organic muesli zu fragen, das gib;t sin der Regel schon in normalen supermaerkten. MacDonald’s hat auch „gesunde“ Optionen in letzter Zeit. Viel Glueck weiter!

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  6. Waltraud

    Super Berichte!! Habe inzwischen aufgeholt! Ich bewundere Deinen Mut, Deine Willenskraft und die Fähigkeit so toll schreiben zu können, ohne nur ansatzweise zu langweilen. Respekt Herr Jürs!! Auch wenn ich nicht immer kommentiere, ich bin dabei! Und falls mal nicht, hält mich der Blog-Affine Wolfgang immer auf den laufenden. Ich wünsche Dir viele interessante Menschen und Begebenheiten auf Deinem Weg. Hoffentlich wird es nicht so kalt, wie alle prophezeien.

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