Tag 19 – 22 Stavanger – Lindås Hamn

Ich sitze auf einer Couch in einem Ferienhaus nördlich von Haugesund. Ohne Meerblick aber mit Aussicht über ein Tal auf einen rot angemalten Bauernhof. Vor dem Wohnhaus wurde, wohl vor vielen Jahren ein Sockel aus den ohnehin umherliegenden Steinen gebaut, um den schrägen Untergrund der Berge (oder sind es noch Hügel?) in eine bebaubare Ebene zu verwandeln. Und auf diesem nun entstandenen Absatz im Gelände haben die Besitzer ein Gebäude gestellt, über dessen Funktion wir uns hier in der Ferienwohnung unsere Gedanken machen. Es erinnert mich an den Veranstaltungsraum eines Ausflugscafés: Unter dem Rotziegeldach zieht sich ein komplettes Band aus weißen Holzsprossenfenstern herum, sei es, um eine perfekte Aussicht auf die schöne Umgebung zu geben oder um viel Licht ins Innere zu lassen oder beides. Die untere Hälfte der Außenwände ist Holzwand in diesem typischen Rot, das ich aus Schweden kenne. Die Häuser in diesem Teil Norwegens sind weiß oder rot. Warum?

Was mag das nur für ein Gebäudeteil sein?

Ich sitze aus dieser schwarzen Ledercouch und empfinde es als ungeheuren Luxus, weil ich es annehmen kann hier zu sein, ohne wohin zu müssen. 

Norwegen scheint aus dem Gleichgewicht geraten zu sein. Nichts ist gerade. Rauf und Runter. Den Orten an denen Menschen sich länger aufhalten wollen muss das Gleichgewicht abgetrotzt werden, indem ihnen unter Mühen Material hinzugefügt – wie dem oben beschriebenen Haus – oder indem dem ihm mit Gewalt ein Teil entfernt wird, üblicherweise durch Sprengungen. Unter Mühen und mit Gewalt die Hänge hoch. Vieles hängt wohl von den Erwartungen ab, mit denen wir in Situationen hineingeraten. Während ich mich an der Landschaft abarbeite, wenn auch zunehmend weniger, weil sich wohl auch bei mir die Erwartungshaltung ändert, scheinen den Norwegern viele Dinge in diesem Zusammenhang sehr normal: Wer ein Haus baut, muss zunächst eine ebene Fläche herstellen: ein Ort des Gleichgewichtes zum Verweilen. Ich sitze auf der Couch.

In Stavanger stehe ich sehr früh auf. Schleiche durch die verlassenen Flure des Hostels in den Speisesaal und genieße in der Stille des Morgens mein Müsli. Das Einpacken meiner Hab-seelig-keiten gerät zur konzentrierten Meditation, jedes Geräusch vermeidend, um den Menschen im Nachbarzimmer dieses hellhörigen Hauses weiterhin den erholsamen Schlaf zu ermöglichen, so wie sie es versucht haben, als sie spät in der Nacht in die Herberge zurück kamen. 

Als ich am Abend des Vortages an der Rezeption meine frühe Abreise ankündigte, wurde mir zunächst mitgeteilt, dass dies natürlich kein Problem sei und erst dann nach der Uhrzeit gefragt. 6:00 Uhr verursachte dann doch aufgerissene Augen: „So früh!?“ – mehr Erstaunen als Frage. Norweger sind nicht so früh unterwegs, scheinen Langschläfer zu sein: Sympathisch. Und so fahre ich diesen Morgen auch durch die Stille einer Stadt, die nur die Hundehalter vor der Arbeit raus in das blaue Licht einer sterbenden Nacht schickt, um zum vereinbarten Treffpunkt zu fahren. 

Die Nacht in Stavanger nähert sich seinem Ende

Jürgen, den ich nach drei Wochen wiedersehen werde. Wir lösen unser Versprechen ein und verbringen die Ferien zusammen. Jetzt hier in Norwegen. Christian wird ihn begleiten und Cecilia in drei Tagen nachkommen. Erst um 7:00 Uhr gibt es erste Hinweise auf zunehmendes Leben in Stavanger, da stehe ich schon über eine halbe Stunde auf dem Parkplatz eines geschlossenen Supermarktes zwischen anonymen Betonbauten, auf jedes Nahen eines Autos lauschend. Und dann kommt er hinter mir um die Ecke gebogen; ich dachte er kommt oben über den Hügel der langen Straße vor mir. Er ist da. Wir umarmen und: Die Wärme eines anderen Körpers, lange nicht gespürt, schön. Wir lächeln uns an, sind uns nah, es hat sich nichts verändert, das beruhigt.

Die vertraute Art zu diskutieren, dreht sich um die Möglichkeit in dieser Stadt so früh ein Frühstück zu bekommen. Wir fahren ins Hostel und dürfen dort am Frühstücksbuffet teilnehmen. Streunen durch die Straßen Stavangers, geschlossene Geschäfte, es ist Sonntag. Regen und Kälte beginnen sich bald zu vermengen: Das Ölmuseum öffnet als erstes und verspricht Wärme für die Zeit bis wir ins Ferienhaus können

In der Wärme des Autos geht es durch den Tunnel, dessen Strecke bis vor zwei Jahren von einer Fähre bedient wurde und nun für Radfahrer nicht durchfahren werden darf. Der Regenradar zeigt eine perfekte Lücke an für eine 16 Kilometer Tour zum Ferienhaus. Christian und ich steigen aufs Fahrrad, erklimmen 240 Höhenmeter, in die Wolken, in den Regen, der nicht sein sollte. Schneematsch auf den Schotterwegen, Schneeregen, der in jede Ecke der unpassenden Kleidung dringt, Kälte und Nässe auf steilen Abschüssen mit Bremsbelägen, die auf der keramikbeschichteten Felge nicht richtig haften wollen. Kälte und Nässe und doch Ankunft in einer kleinen Hütte, die zu klein ist, um die ganze Kleidung zu trocknen mit einer einzigen überforderten Elektroheizung. Es dauert, bis wir wieder warm werden.

Felsen wie Walrücken im Wasser unter uns
Blick Richtung Stavanger lässt kein gutes Wetter erwarten

Am nächsten Morgen ist die Hütte warm, wenn man die Tür nicht zu lange öffnet. Wir lassen uns Zeit für alles. Um 13:00 Uhr machen wir uns vom Basiscamp auf den Weg zum Preikestolen. Mit zunehmender Höhe liegt mehr Schnee auf dem Weg und am Ende stapfen wir durch eine geschlossene Schneedecke. Kurz vor dem Plateau kommen uns die ersten Rückkehrer entgegen und als wir am Ziel ankommen, haben wir die Aussicht ganz für uns allein.

Sherpas sollen den Weg zum Preikestolen gebaut haben
Ausblicke beim Aufstieg
Jürgen im Schnee
Blick nach Osten vom Preikestolen
Blick nach Westen vom Preikestolen

Manchmal machen Dinge Sinn, obwohl sie nicht logisch sind. Ist das Gut? Ich freue mich über die einsame Naturerfahrung auf dem Preikestolen, die Stille auf der weißen Schneefläche für uns ganz allein zu haben. Warum ist das so, dass Naturerfahrung um so wertvoller wird, desto weniger Menschen daran teilhaben? Ich hatte nicht damit gerechnet, hier oben allein sein zu können. Norwegen ist jetzt nicht unbedingt das Reiseland für Menschen, die Anstrengungen scheuen und doch hat sich heute keiner die Mühe gemacht mit uns hier oben zu sein. Der Mensch hat mächtige Bilder erzeugt vom Preikestolen und seiner Aussicht auf Berge, Fjord und eine ungehinderte Weite, die einen auf eine Eigenverantwortung zurückwirft, nicht zu Nah an den Abgrund zu treten. Auch wenn der Weg zum Plateau gezähmt wurde, am Ziel wartet kein Geländer aber über 600 Meter Tiefe. Solch eine existenzielle Erfahrung ist etwas Besonderes und erzeugt eine mediale Aufmerksamkeit – und die hat mich erst hierhergebracht. Der Wert des Alleinseins hier oben ergibt Sinn, er ist aber nicht logisch.

Schon gar nicht, wenn das Gefühl der Einsamkeit die letzten Wochen drohte gelegentlich übermächtig zu werden. Aber, es gibt einen Unterschied zwischen Einsamkeit und Alleinsein. Das Alleinsein wählt man und entspannt den Geist, die Einsamkeit lassen wir uns auffressen. Im Alleinsein müssen wir doch nicht einsam sein, weil wir uns mit Orten und Menschen trotz ihrer Abwesenheit verbunden fühlen können. Das ist das tückische an der Einsamkeit, sie gaukelt uns vor, dass es keinen Ausweg gibt, sie verschlingt das Vertrauen in das eigene Handeln. Einsamkeit entsteht, weil wir andere Menschen nicht an unserem Leben teilhaben lassen. Sie entsteht in und durch uns. Aber, die Einsamkeit versperrt den Blick auf diese einfache Tatsache und jedem Einsamen wird sie wie Hohn vorkommen. Ich konnte es nicht nicht sehen.

Auch am nächsten Tag lassen wir uns wieder für alles Zeit, denn die letzten Regenschauer ziehen noch durch. Wir steigen spät aufs Fahrrad Richtung Haugesund mit Beinen, die die ersten Anzeichen eines Muskelkaters in sich tragen. Wir fahren durch Täler, in denen in der Mitte das dunkelblaue Wasser von Seen und Fjorden liegt, umrandet von grünen Wäldern und Weiden, die sich zu den grauen Höhen der Berge emporschwingen. In der Ferne hinter dem Ende des Tals versperren immer wieder schneebedeckte Berge den Weg und manchmal verschmilzt das weiß der Bergkuppen dann mit dem weiß eines Himmels und verschleiert den Horizont, so dass das Tal zu einer Rampe in den unendlichen Himmel wird.

Schnee und Himmel werden manchmal eins

Doch als erstes dürfen wir nicht durch einen Tunnel fahren, was sich als großes Glück erweist, denn so fahren direkt auf der alten Straße, die nur für Radfahrer erhalten wird ohne Verkehr am Fuße von dunkel einschüchternden Bergen entlang. Gefallene Felsen versperren die halbe Straße, sind so groß, dass ich gedacht hätte, dass sie die Straße mit in den Abgrund reißen müssen. In dem aufragenden Berg, zu dem ich den Kopf weit in den Nacken legen muss, tauchen Gesichter auf, versteinerte Trolle im Licht der Sonne und die neue Straße die tief in ihren Hals gebohrt wurde, kann ich in meinem eigenen fühlen.

Gesichter in den Bergen

Die Landschaft ändert sich permanent. Manchmal ist es eine Pedalumdrehung und ich habe das Gefühl ganz woanders angekommen zu sein. Immer wenn wir höher ins Tal kommen und den See/Fjord hinter uns lassen, begleitet uns das Plätschern von Bächen, dass aber hin und wieder zum Rauschen eines ungestümen Größeren zu werden scheint.

Elektrofähre (Zusätzlich auch mit Wasserstoff und im Notfall mit Diesel angetrieben)

Wir folgen einem See und zwischen Ufer und Straße schiebt sich ein kleiner Fichtenwald, als sich die Sonne ihren Weg durch die Wolken bahnt: saftiges Streiflicht auf grünem Moosteppich zwischen den Stämmen unter den hohen schwarzen Schirmen der Kronen und dahinter das türkise Wasser des Strandes, das übergeht in das tiefdunkle Blau. Der Blick wird am Ende von einer silbrig-schuppigen Felswand begrenzt, die jenseits des Ufers steil aus dem Wasser ragt.

Wir fahren die ersten kurzen Tunnel an diesem Tag. Ausgeleuchtet zwar aber trotzdem dunkel. Eintauchen in die Ungewissheit eines neuen Ausblickes, der hinter dem durchbohrten Fels wartet. 

kurzer Tunnel

Hinter dem letzten Tunnel des Tages wartet ein kleiner Rastplatz mit Tisch und Sitzgelegenheit. Direkt neben dem Tunnelausgang stehen zwei Kiefern und zwischen ihnen nur zwei kleine ebene Flecken, die Platz für zwei Zelte lassen. Die Aussicht auf die schneebedeckten Berge auf der anderen Seite des Fjordes ist überwältigend. Die Strahlen der sich senkenden Sonne spiegelt sich auf den steil abfallenden Felsen, lässt sie lebendig werden und mit ihnen alte Mythen.

Ausblick vom Lagerplatz

Was anfangs nur erste Anzeichen waren, wird jetzt zur Gewissheit: Die Wanderung zum Preikestolen hat ganz andere Muskelgruppen beansprucht – Muskelkater. Wir steigen mit schweren Gliedern in die Zelte. Die Autos, die wir in der Nacht hören, können wir an einer Hand abzählen und erst ab 8:00 Uhr wird es plötzlich geschäftig an der Straße. Um so größer unsere Überraschung, als wir um 9:00 Uhr aus dem Zelt kriechen, dass der Tunnel mittlerweile eine Baustelle ist. Autos werden wechselseitig von einem Begleitfahrzeug an einer Arbeitsbühne im Tunnel vorbeigeführt, auf dem Mitarbeiterinnen mit Stöcken die losen Steine von der Decke der Tunnel abstoßen. Das Ergebnis dieser Arbeit wird direkt von der Arbeitsbühne in den Fjord abgekippt.

Schon um 10:00 Uhr fahren wir mit schmerzenden Waden weiter. Die Anstiege sind heute steiler. Ich darf nicht jammern und tue es trotzdem. Um 14:00 Uhr haben wir erst 35 Kilometer geschafft, kommen in Jelsa an. Und dann plötzlich werde ich gewahr, dass mir die Kilometer egal sind. Neben all der Quälerei und der Jammerei, die der Muskelkater mit sich gebracht hat, hatte ich doch immer ein Auge für die Schönheit des Weges. Ich konnte an jeder Zuckertankstelle anhalten und Ruhe einkehren lassen in die geschundenen Muskeln, den Tag, die Reise und mein Leben.

Freiwillige Feuerwehr in Jelsa

Und so treten die Prioritäten deutlicher hervor und Wege werden klarer, Entscheidungen fallen leichter. Die Zahl der Fähren von Jelsa nach Nedstrand ist sehr begrenzt. Mit dem Hurtigbåt sind wir um 16:30 Uhr in Nedstrand und lassen uns von Cecilia abholen und zum 67 km entfernten Ferienhaus fahren. Die Zeit mit Jürgen ist viel wichtiger als der sportliche Aspekt dieser Art zu reisen, jeden Kilometer mit dem Fahrrad zurückzulegen. Mit diesen Gedanken kann ich ohne Reue die warmen Wartehäuschen der Fährhäfen nutzen, sogar in Jelsa einen kurzen Abstecher zur Kirche machen, die dann jedoch verschlossen ist: „Noch keine Touristensaison!“, sagt der Nachbar bedauernd.

Der Muskelkater erinnert an die Wanderung zum Preikestolen mit seiner einmaligen und wunderschönen Landschaft. Den Muskelkater werde ich vergessen aber die Landschaft immer in meinem Herzen mittragen.

Ich habe mich einsam gefühlt aber ich war nur allein.

5 Replies to “Tag 19 – 22 Stavanger – Lindås Hamn”

  1. Jürgen

    Cool, ich bin erster Kommentierender! 😉
    Sehr philosophisch und nachdenklich bist du dieses Mal. Das macht sicher auch die kalte und noch eher ruhende Landschaft hier, die ja auch physisch eine echte Herausforderung darstellt – zumal am Anfang der Reise. Ich freue mich jetzt aber auf 10 Tage gemeinsamen Urlaub.
    Alles Liebe

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  2. Diana

    „… Und dann plötzlich werde ich gewahr, dass mir die Kilometer egal sind.“
    🚵‍♂️ Da scheint jemand angekommen zu sein, auf der Fahrradweltreise! 👍

    Gute Fahrt weiterhin!

    Wegen der Kälte: Daunenjacken sind ideal nach dem Radfahren, bei Pausen und am Zeltplatz!

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    1. Diana & Lutz

      Na super, hat ja geklappt mit der Daunenjacke 😉

      Im Norden Norwegens soll es bei den Supermärkten z.B. Coop kurz vor der Fähre (Krønsvig Kystfjord?) Aufenthaltsräume für Kunden mit Picknickplätzen, Wifi!!, Steckdosen!!, Kaffeemaschine und Microwelle geben. Tip stammt jedoch nicht von mir, gesehen bei YouTube SaddleStories, „Unsere bittersüße Zeit in Norwegen“ EPS 5 Min11:22

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  3. Hanne

    Hallo Thomas, den gleichen Gedanken wie Diana hatte ich auch. Jetzt bist du angekommen und Jammern wegen Muskelkater, darf man. Ich finde das erleichtert es. Wir wünschen dir das endlich mehr Sonnenschein dich begleitet dann sieht die Natur ja noch viel schöner aus. L. G. Hanne u Helmut und pass auf dich auf auch Grüße an Jürgen

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  4. Rita Jürs

    Tolle Aufnahmen.Schön das sich deine Einstellung zu Kilometern geändert hat. Das jeder seine eigene Verantwortung, vor den nicht abgesperrten Abgründen, mobilisieren muss, haben wir auch auf Island erfahren. Da hier bei uns alle Aussichtspunkte Zaun oder Geländer haben, war das ne neue Erfahrung für die eigene Verantwortung. Grüße an alle und einen schönen Urlaub zusammen. LGMR

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