2. Tag
Es gab ja ein paar Tage zuvor die Diskussion, wann wir aufstehen und abfahren sollten. ICH (Klugscheißer) wollte um sieben Uhr loslegen, Jürgen meinte, es reiche halb acht. Wir einigten uns dann auf sieben Uhr. Wir schafften es tatsächlich um 7:10 Uhr in den Sätteln zu sitzen und mit kräftigem Rückenwind fliegen wir über die Radbahn Richtung Rheine. Die Radbahn ist eine stillgelegte Eisenbahnstrecke, die zu einem Radweg ausgebaut wurde. Ohne nennenswerte Steigungen macht Radfahren richtig Spaß.
Sechs Kilometer vor Rheine macht Jürgen plötzlich ungewollt eine Vollbremsung. Seine fordere Trommelbremse hat blockiert. Der Feststellarm hat sich aus der Verankerung gerissen, der Bremszug hat sich um die Achse gewickelt, sich stramm gezogen und den Lenker nach unten gerissen. Die Kräfte müssen enorm gewesen sein, denn Lenker und Vorbau sind stark verbogen.
Eine halbe Minute Ratlosigkeit geben wir uns. Nach fünfzehn Jahren verstehen wir uns wohl schon ohne viel Worte. Ziel ist es, die eineinhalb Stunden Zeit in Rheine für eine Reparatur zu nutzen. Vorderrad ausgebaut, Seilzug und Feststellarm wieder in Position bringen, Feststellarm notdürftig mit einem Kabelbinder befestigen. Solange Jürgen mit der Vorderbremse nicht bremst, sollte das halten. Kabelbinder gehören in jedes Fahrradreparaturkit. Mit schiefen Schultern für Jürgen geht es bereits nach wenigen Minuten anfangs langsam, später routinierter, doch recht zügig nach Rheine, zum Radladen, den uns Google maps als zum Bahnhof nächstgelegen anzeigt.
Auf dem Weg wird das Problem weiter besprochen. Das gesamte Vorderrad muss ausgetauscht werden, denn während der Fahrt schrabbelt irgendetwas im Inneren der Bremse. Eine neue Bremse einspeichen gibt die Zeit nicht her. Cantilever-, V- oder Magurabremsen gibt der schöne klassische Rahmen mangels Befestigungspunkten nicht her. Mir fehlt es an Vorstellungskraft, wie das Problem technisch zu lösen ist und bringe deshalb die Idee ins Spiel ein neues Rad zu kaufen. Schnell ist der finanzielle Spielraum ausgelotet: Plan B steht.
Der Fahrradhändler in Rheine lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. „Ich mache das Fahrrad hier erst mal fertig.“ Mein Stresspegel steigt – unbegründet. Bereits zwei Minuten später ist er für uns da. Problem erkannt, Problem gebannt. Zunächst meint er, dass die Bremse noch funktioniert, doch hier bringe ich mein mangelndes Vertrauen in die weitere Zuverlässigkeit der Bremse deutlich zum Ausruck. Das schrabbelnde Geräusch verheißt nichts Gutes für die Zukunft. Er dreht das Vorderrad, horcht und nickt zustimmend. Er kramt aus diversen Kisten zum Teil gebrauchte Ersatzteile hervor, mit denen er das Vorderrad neu aufbauen will.
Die zum Einsatz kommen sollende historische Bremsentechnik kenne ich nur als ‚Felgenquetsche‘ und ist als so ineffektiv bekannt, dass ich Angst vor den Hügeln Englands bekomme. Unausgesprochen wird mir schnell klar, dass jetzt wohl doch Plan B greifen muss und mein Blick schweift über das Fahrradangebot. Schon beim Betreten des Ladens habe ich festgestellt, dass hier auch Velo de Ville Räder verkauft werden. Jürgens Fahrrad ist ein AT. AT produziert in Altenberge und hat sich vor Jahren in eben dieses Velo de Ville umbenannt. Das macht die Entscheidung schon mal etwas leichter. Von den etwa dreißig Fahrrädern kommen nur zwei überhaupt in Frage, wobei das eine wegen der Federgabel eigentlich schon wieder rausfällt. Während Jürgen dem Ladenbesitzer bei den Vorbereitungen zur Reparatur zusieht, schiebe ich im das einzige in Frage kommende Fahrrad ins Blickfeld. Wir verstehen uns wortlos, ich weiß, dass er sich die gleichen Gedanken gemacht hat. „Preis?“, fragt er und ich halte ihm das Schild hin.
Der Fahrradmechaniker wird über seine neue Aufgabe als Fahrradverkäufer aufgeklärt und Jürgen fährt kurze Runden mit den beiden Fahrrädern. Natürlich auch das mit der Federgabel, das schließlich nur die Hälfte kostet. Gott sei Dank ist auch der Verkäufer der Meinung, dass eine Federgabel nichts an einem Reiserad verloren hat.
Mit einer Seelenruhe beginnt er nun, die benötigten Teile vom alten Rad an das neue umzumontieren. In fünf Minuten müssen wir los. „Was hat der Entwickler sich bei diesem Teil gedacht?“ fragt er sich und betrachtet eingehend die Halterung für die Lenkertasche; unser Stresspegel steigt wieder, doch siehe da, nach fünf Minuten sind Lenkertaschenhalter und Tacho montiert, das Fahrrad bezahlt und das Gepäck aufgesattelt.
Am Bahnsteig müssen wir sogar noch fünf Minuten warten. Zeit für Jürgen, sich sein Fahrrad schön zu gucken, um der Wehmut nach seinem alten geliebten AT-Rad etwas entgegen zu setzen. Wir erinnern uns an gestern, wir waren am Stammhaus von Velo de Ville in Altenberge, ich kaufte Ersatzteile und im Anschluss daran drehten wir eine kurze Runde durch die große Radauswahl. Sehnsüchtig blieben wir an den Reiserädern hängen; wenn ich mir irgendwann ein neues Rad kaufen muss, dann eines von Velo de Ville – oder von Idworx. Ich bin ein bisschen neidisch auf Jürgens neues Rad.
Die Zugfahrt verläuft gemütlich, ohne Zwischenfälle, wenn man von der Warnung vor Dieben absieht, die kurz vor Ende der Fahrt durchgesagt wird. Ich höre zwischen den Zeilen, dass es sich nicht um eine Routinedurchsage handelt, sondern dass sich gerade ein Bestohlener beim Schaffner gemeldet hat. Fünf Leute springen im Fahrradabteil auf und gehen zu ihren Rädern, der Rest dreht sich mit prüfendem Blick zu seinem Gepäck um. – Vielleicht ist es auch noch erwähnenswert, dass es da erste mal ist, dass die Deutsche Bahn es geschafft hat, alle Fahrradmitführenden im gleichen Abteil wie ihre fahrbaren Untersätze unterzubringen. Sonst wurde ich immer in einen entfernten Waggon verbannt, ärgerlich, wenn man sein gesamtes Gepäck nicht bei seinem Rad lassen darf.
Wer in Amsterdam aus der Centraal Station in das helle Sonnenlicht hinaus tritt, sieht sich sofort mit den alten Häusern und den Grachten konfrontiert. Urlaub und Sightseeing beginnen sofort. Bis Rheine fühlte ich mich noch in heimischen Gefilden, war auf eine Art und Weise zu Hause, die das Fernweh nicht aufkommen ließ. Hier nun hielt ich kurz inne, schloss die Augen und atmete einmal tief durch: „Wir sind unterwegs!“
Mehrere Grachten verlaufen in konzentrischen Halbkreisen um den Bahnhof als Zentrum herum. Wir beschließen einer dieser Grachten zu folgen. An ihrem Ende soll der Weg zur Fähre auf uns warten. Es gibt zwei Wege Amsterdam authentisch zu erfahren: zu Fuß oder mit dem Fahrrad, Fiets sagen sie hier dazu. Mit einer großen Gelassenheit, radeln die Einheimischen durch die Stadt. In diesem Gewühle aus wenigen Autos, vielen Fahrrädern und Unmengen an Fußgängern nehmen wir uns ein ums andere Mal die Vorfahrt, versperren den Weg, fahren auf der verkehrten Seite, … und werden kein einziges Mal verärgert angemacht.
Warum fahren Touristen nach Amsterdam? Natürlich gibt es die historische Bausubstanz, doch was bedeutet diese, wenn sie ihre Bedeutung als Ort für einheimische, hier lebende Menschen verliert und zunehmend nur noch von Reisenden durchquert wird. Städte, Dörfer erhalten ihre Seele von den Menschen, die sie nutzen. In diesem Sinne ist Amsterdam nur noch eine Kulisse, vor der sich Menschen treffen, die einer globalen Kultur angehören, die sich auf sich selbst bezieht. Mich beschleicht im Kontakt mit diesen „Digital Natives“, dass deren Suche nach dem Originären eines Ortes eigentlich ergebnislos bleibt. In den Hostels treffen sie auf Ihresgleichen, ohne die Chance ausbrechen zu können. Die Erfüllung ihrer Sehnsucht würde bedeuten, innehalten zu müssen und auf das Leben zu warten, das hier beheimatet ist. Die Andersartigkeit einer Kultur zeigt sich in den Dingen, Riten, Ansichten, die sich nicht der unsrigen zeigen. Wer dem originären Russland begegnen will, muss verstehen wollen, warum Putin in der Bevölkerung einen großen Rückhalt genießt – Wer dem originären China begegnen möchte muss verstehen wollen, warum ein Großteil der Bevölkerung hinter der Zentralregierung steht – Die USA habe ich in den Momenten besonders gut verstanden, als ich auf Menschen gestoßen bin, die wohl später Trump ins Amt gewählt haben, weil sie eine Facette der Kultur, des Lebens in den USA vermittelten, die meinen eigenen Ansichten konträr entgegensteht – In England wird es wohl die Frage sein, warum sich eine Mehrheit dafür entschieden hat, die EU zu verlassen. Diese unangenehmen Tatsachen zu verstehen, muss die Aufgabe eines wirklich offenen Reisenden sein, wenn er den Menschen wirklich und damit auf Augenhöhe begegnen möchte.
Wir durchqueren die Amsterdamer Altstadt, treffen fast wieder auf den Bahnhof und halten uns nach Westen. Nach einer Stunde fahren wir durch Wiesen und Weiden, durchqueren kleine Städtchen und erreichen, mit einer Kaffeepause, wie geplant gegen vier Uhr den Fähranleger. Wir boarden über den Autoterminal und verschwinden nach kurzer Zeit im Bauch der Fähre. Fahrräder festgezurrt, warten vor dem Fahrstuhl, der ein ums andere Mal immer wieder voll besetzt die Tür öffnet. Schließlich ächzen wir mit unserem Gepäck die steilen Treppen hoch – so anstrengend war die ganze Fahrradtour heute nicht! Endlich landen wir in unserer winzigen 2 X 3 Meter Innenkabine. Ziel erreicht: Duschen, Schiff erkunden, Bar zum Blog schreiben okkupieren.