Es sind hundert Kilometer nach Gallup. Zwei Kilometer vor dem höchsten Punkt schneit es mal wieder und ich pinkel hinter eine Mauer eines verfallenden Hauses in dem Bewusstsein, dass das nun alles Richtung Atlantik fließen wird. Bei Kilometer 60 erreiche ich auf 2220 Metern Höhe die Continental Divide und ab nun wird Wasser in den Pazifik fließen.
Immer wieder haben mich bis hierher Schneeschauer verfolgt, es ist kalt und der Wind kommt mir entgegen. Trotzdem ist das Fahren nicht so anstrengend, wie es sich jetzt anhört. Um 16:00 Uhr erreiche ich Gallup und suche einen Supermarkt auf. Kara, meine Gastgeberin heute, lernt für eine zusätzliche Zertifizierung als Krankenschwester ; in sechs Tagen ist die Prüfung. Ich habe ihr deshalb angeboten, zu kochen, damit sie in der Zeit weiter lernen kann. Sie ist nach Gallup in New Mexico gekommen, weil hier sonst keiner hin will. Der Staat New Mexico bezahlt deshalb Krankenschwestern, die sich verpflichten, hier fünf Jahre zu arbeiten, etwa ein Drittel der Ausbildungskosten. Nun ist sie hier auf einer Notaufnahmestation angestellt und muss für ihren Arbeitgeber drei Zertifikate erwerben. Dieses ist das Zweite und es geht um Traumatologie: Was muss sie tun, wenn zum Beispiel jemand mit einer Schussverletzung in die Aufnahme kommt?
Sie arbeitet in einem Krankenhaus für die Indianer. Da diese über den Staat krankenversichert sind, betreibt der Staat für sie eigene Krankenhäuser. Sie ist sich sicher, dass unter den Indianern der Anteil der Übergewichtigen noch höher ist als in der ´Normalbevölkerung´, und Valery widerspricht ihr nicht. Valery ist Navajoindianerin und die Mitbewohnerin von Kara. Sie wohnen aus zweierlei Gründen zusammen. Zum Einen ist der Bauplatz in Gallup aufgrund der umliegenden Berge begrenzt und der Soziale Wohnungsbau hat Vorrang. Kara hat keine Chance auf eine dieser Wohnungen, weil sie als Krankenschwester zu viel Geld verdient. Die freien Wohnungen sind wegen der Wohnungsbaupolitik entsprechend teuer: Für ihre kleine 3-Zimmer-Wohnung bezahlen sie 800,- $ kalt. Sie will nicht so viel Geld für eine Wohnung ausgeben, weil sie ihre Ausbildung so schnell wie irgend möglich abbezahlen möchte. Noch gefällt es ihr hier, aber sie ist sich ziemlich sicher, dass sich das in fünf Jahren geändert haben wird und dann möchte sie nicht schon wieder auf ein Angebot wie dieses eingehen müssen.
Einer ihrer Drähte in die große weite Welt ist Couchsurfing. Sie freut sich über jeden Besucher und die Geschichten aus der Welt, die mit ihnen kommen, dann wird Gallup für sie kosmopolitisch.
Doug in San Fidel hat schon erwähnt, dass es in Gallup viele Loan-Companies gibt. Valery erwähnt diese Geschäfte und es stellt sich im weiteren Gespräch heraus, dass sie nicht wie ich dachte, dass sie das Gleiche wie die Pawn-Shops sind. Das Geschäftsmodell ist ähnlich, aber es gibt Unterschiede. Diese Geschäfte sind so alt wie die USA selber und ich weiß, dass es mit etwas sehr tief sitzendem in dieser Gesellschaft zu tun hat. Ich will versuchen, es zu erklären:
Der erste tief sitzende Aspekt ist der, dass es in Amerika keine Sozialversichrungen gibt, was dazu führt, dass Menschen immer wieder in existentielle Lagen kommen, wenn sie zum Beispiel eine dringend nötige Behandlung beim Arzt bezahlen müssen. Gerade solche Lagen bringen es also mit sich, dass man einerseits dringend Geld braucht, andererseits aber bei Banken nicht mehr sehr gerne gesehen ist. In solchen Momenten kann man hoffen, genug Geld oder Freunde mit eben solchem zu haben oder man geht eben in einen Pawn-Shop oder zu einem Title-Loan.
In einem Pawn-Shop kann man einen Wertgegenstand der, sagen wir 600,- $ Wert ist, für 200,- $ verkaufen. Der Eigentümer des Pawn-Shops wird ihn dann für 400,- $ weiterverkaufen. Der Reiz der Sache ist der, dass man das Geld sofort bar auf die Kralle bekommt. Die meist verkauften Gegenstände in diesen Pawn-Shops sind Schmuck und Waffen, Dinge auf die man in der Not auch mal verzichten kann, die aber was wert sind. Wer nun seinen Gegenstand zurück haben will, muss eben die 400,- $ bezahlen. Es ist ein einträgliches Geschäft für die Shopbetreiber.
Noch perfider wird es bei den Title-Loan Geschäften. Manchmal muss es eben ein wenig mehr Geld sein und dann stehen die Loans bereit. Man kann mit seinem Fahrzeugbrief oder seiner Grundbesitzurkunde hierher gehen und einen Vertrag abschließen über einen Kredit, der einem einen Bruchteil des Wertes, den man als Sicherheit hinterlegt, auszahlt. Die Zinsen liegen bei etwa 50%. Nach Ansicht aller Menschen, mit denen ich in den USA bisher über diese Geschäfte gesprochen habe, ist das ganze Geschäft darauf angelegt, dass der Kreditnehmer nicht mehr zahlen kann. Der Gläubiger ist in jedem Fall der Gewinner und das richtig. In den USA gibt es so gut wie keine Möglichkeit, gegen einen unterschriebenen Vertrag vorzugehen. Es ist eine perfide Art, aus der NOT anderer Menschen Profit zu schlagen.
Diese Geschäfte widersprechen in großem Maße dem Rechtsempfinden weiter Teile der US-amerikanischen Bevölkerung und ich kann gar nicht genug darauf hinweisen, wie sehr und tief dies in einem System verankert ist, das den zweiten Aspekt darstellt. Amerika ist für die meisten Menschen nicht das Land der Freiheit: Es gibt ein paar Wenige in diesem Land, die den Großteil der anderen Menschen für sich arbeiten lassen und die Profite aus deren Arbeit zum großen Teil für sich einstreichen. Die mangelnde soziale Absicherung ist dabei ein Mittel, diese Menschen daran zu hindern, eigenes Vermögen zu erwirtschaften oder das erwirtschaftete eben den Reichen geben zu müssen. Die mangelhafte Ausbildungssituation produziert massenhaft schlechte Qualität, was wiederum dazu führt, dass viele Dinge nach einer kurzen Lebensdauer wieder ersetzt weden müssen, das Geld fließt in die großen Taschen. Die Gewinner dieses ´Spiels´ sind diejenigen, die die Wahlkämpfe der Politiker, Richter und Polizisten (In einigen Staaten werden Richter und leitende Polizisten gewählt) finanzieren und das ist jetzt keine Polemik von mir, das sind Fakten.
Kara und Valery sind jedenfalls der Meinung, dass ich einen Pawn-Shop von drinnen sehen sollte und während ich noch denke, ob die wohl jetzt um 20:00 Uhr noch auf haben, sind wir auch schon in Taras Auto und kurven durch die Stadt. Alle Pawn-Shops haben zu. Amerikaner legen los, wenn es etwas zu tun gibt, die warten nicht lange, sondern handeln. Der gemeine Deutsche analysiert die Lage erst Mal. Beides hat seine Vorteile, ich merke aber, dass ich mit der ruhigen und überlegten Art eines Deutschen mehr anfangen kann, die Amerikaner haben dann laut Tara meist das Gefühl, es mit Arroganz zu tun zu haben, wenn das Gegenüber nicht gleich mitzieht.
Tara verfällt auf Grund des Misserfolges darauf, dass sie die Ausnüchterungszelle sehen will. Sie habe gehört, dass man die einfach aufsuchen könne und die Insassen begaffen könne. Das Polizeirevier ist direkt um die Ecke und sie kurvt eine viertel Stunde ergebnislos um die Wache. Mir wird schon etwas mulmig, weil hier überall Überwachungskameras sind. Schließlich hält sie vor dem Haupteingang an und will klingeln. Ich folge ihr, weil ich die Hoffnung habe, mal mit einem amerikanischen Polizisten zu sprechen. Wir suchen ergebnislos nach einer Klingel. Wir stehen ratlos vor der Polzei. Ein vom Hof fahrendes Polizeiauto das wir ratsuchend anstarren, hält nicht an. Tara stellt die Frage: „Was wäre, wenn wir wirklich Hilfe gebraucht hätten?“
Der heutige Tag lässt sich kurz zusammenfassen: Zu spät los gekommen, Rad gefahren, Motel bezogen, Internetsachen erledigt.
Zwei Anekdoten gibt es dann doch noch zu erzählen.
Ich fahre immer parallel auf den Frontage-Roads der I 40, die der historischen Route 66 entsprechen. In Arizona (40 km Erfahrung) sind die Straßen bis jetzt viel schlechter als in New Mexico, so wunderte es mich nicht, dass ich plötzlich die Ankündigung lese, dass die Asphaltierung bald enden wird. Mein Navi zeigt mir an, dass sich die Route 66 für etwa sieben Kilometer von der Interstate 40 entfernt. Nach diesen sieben Kilometern über zum Teil üble Wellblechpiste komme ich tatsächlich wieder auf eine ziehmlich gut asphaltierte Straße, die dicht entlang der I 40 führt und nach etwa 3 Kilometern an einem Schild endet mit der Aufschrift, dass wegen Straßenarbeiten die Weiterfahrt untersagt ist, so ganz ohne Vorwarnung. Eigentlich müsste ich nun die 10 Kilometer zurück fahren, ich sattel jedoch mein gesamtes Gepäck ab, trage mein Fahrrad über den Zaun, der mich von der I 40 trennt, und gebe mein Gepäck hinterher, klettere selber durch den Zaun und stakse direkt in dieses trockene Gebüschzeugs rein, das hier überall rumliegt und habe gleich mehrere Dornen im Bein stecken: Mist, danach sah das gar nicht aus. Nachdem ich alle Dornen entfernt habe, montiere ich mein Gepäck unter den Augen der 200 Meter weiter stehenden Polizisten auf und fahre auf der Autobahn weiter.
Im Motel angekommen, soll ich 80,- $ plus Steuern für ein Zimmer zahlen. Im Internet war jedoch von durchschnittlich 55,- $ plus Steuern die Rede. Jeder Verweis darauf wird jedoch recht arrogant mit dem Hinweis darauf, dass dies eine touristisch wertvolle Gegend ist, abgewehrt. Ich pokere hoch, als ich mit dem Hinweis, dass ich dann nach Holbrook weiterfahren werde, die Rezeption verlassen will. Der Rezeptionist lenkt dann ein, er könne mir ein Zimmer für 70,- $ inklusive Steuern überlassen. Ich atme auf, ich hätte auf keinen Fall weitere achtzig Kilometer fahren können.
Man könnte meinen ,das wäre ein Aprilscherz.Vor den Augen der Polizei auf der Autobahn radfahren.
Aber die scheint ja so wie so sehr träge zu sein.War der Zug auch wieder so lang?
Das waren ja interessante und ein wenig verpeilte Gastgeberinnen! Und was du so alles dadurch er-fährst!! Möchte man dort wohnen? Nur
mit ausreichend Geld auf dem Konto, au weia!
Tolle Bilder, die du da an uns schickst. Da bricht voll der Neid aus! Hast du deine Wunden gut desinfiziert? Den American-Way-Of-Life-Virus hat schon trotz allem so manchen befallen ???
wie gut, dass die zwei keine Cousinen waren… 🙂
https://youtu.be/ZygK3yvUee4
Hallo Thomas!
Bei uns wäre die Polizei bestimmt nervös geworden, und hätte sich vorgestellt.
So, jetzt guck deine Beine noch mal an ob die in Ordnung sind, und dann abwärts Richtung Küste. Bis du da bist dauert es ja noch ein bisschen. Aber wenn du da bist, wirst du bestimmt für deine ganze Mühe belohnt.
Also weiter gute Fahrt bergab>>>>>>und nicht zu schnell!!!
l.G.M+V
Das mit dem ´bergab´ ist leider nicht ganz so, wie ihr Euch das vorstellt. Ich fahre seit der Continental Divide in ein Tal und dann an einem Tag wieder 600 m Hoch nach Flagstaff (2100 m). Das Wasser dieser Senke fließt in die Baja California. Hinter Flagstaff kommt ein Becken und auf der anderen Seite geht es noch mal auf 1800 m hoch und dann erst kommt der Pazifik 🙁
Trotzdem, da du den höchsten Punkt erreicht hast, fährst du für mich abwärts, auch wenn noch einige Höhenmeter kommen. Mach es gut. Wir waren gestern auf Zwutsch und gehen jetzt wieder los. Tschüss.
„dass es in Amerika keine Sozialversicherungen gibt“ – das stimmt so ja nicht. bisschen zu sehr verallgemeinert…
und apropos der Motelpreise – hast du mal probiert, vorab zu reservieren? Kann sein, dass du dann bessere Chancen hast, enen guenstigen Preis zu sichern. Wenn du erstmal mit dem Fahrrad vor dem einzigen Motel am Ort stehst, ist die Verhandlungsposition nicht mehr so gut 😉