Cullman – Hamilton

Die letzten Meter wurden noch mal richtig zur Quälerei. Jeden einzelnen Kilometer schaue ich mir mehrfach auf dem Tacho an. Obwohl der Regenradar sagt, dass auf meinem Weg kein Regen mehr sein sollte, regnet es fast ununterbrochen; mal mehr, mal weniger. Der Wind kommt von vorn und es ist kalt. Achtzehn Kilometer vor Cullman liegt eine Brieftasche neben der Fahrbahn im Gras. Ich nehme sie an mich, auch wenn kein Geld mehr drinne ist. Kreditkarten und ein Führerschein geben Auskunft über den Eigentümer. Als ich im Westen Cullmans vor der Apotheke ankomme, in der Ed, mein nächster Gastgeber, arbeitet, kann ich mich kaum noch auf den Beinen halten. Ich wackel an den Tresen und die Frau dahinter ruft über die Schulter: „Ed! He´s here!“

Ed bugsiert mich erst mal auf einen Stuhl und gibt zu, dass er beeindruckt ist von meiner Leistung (das tut dann doch gut). Er hatte mir angeboten, mich irgendwo abzuholen und ist davon ausgegangen, dass ich dieses Angebot annehme. Ich trinke erst mal ausgiebig und schiele auf die Tüten Chips, die in einem Regal stehen, kann mich aber beherrschen. Ed versucht die vier Jahre Deutsch aus seiner Schulzeit zu reaktivieren, was ihm sehr schwer fällt, trotzdem kommen wir schnell ins Gespräch und unterhalten uns prächtig. Dann zeige ich ihm die Brieftasche und er macht sich an die Recherche. Er findet das Rezept über eine Brille und ruft den Augenarzt an. Der will aber keine Auskunft über die Telefonnummer seines Patienten geben, verspricht aber, diesen anzurufen und ihm zu sagen, dass er seine Karten in Eds Apotheke abholen kann. Nach einer halben Stunde packen wir mein Fahrrad auf die Ladefläche seines Trucks (wir nennen das Pick-up, und wenn man einen Amerikaner fragt, was denn ein Pick-up ist, gestehen sie, dass sie eigentlich keinen Truck fahren, sondern einen Pick-up, sprechen aber weiterhin von ihrem Truck). Ich muss etwa fünf Minuten draußen stehen, die Kälte trifft mich wie ein Schlag und ich fange am ganzen Körper an zu schlottern. Schließlich öffne ich einfach sein Auto und setze mich rein.

Die Kälte kriecht mir durch alle Glieder und bei ihm Zuhause angekommen, bestehe ich nach der Begrüßung von Deb darauf, erst mal unter die Dusche zu steigen. Mittlerweile finde ich diese Schmerzen, wenn die Zehen wieder auftauen, schon fast schön.

Deb hat ein reichhaltiges Essen vorbereitet: Salat, Hähnchen, Maismuß, Ofenkartoffeln, Macaire-Karfoffeln, Bohnen. Zum Nachtisch gibt es einen Kuchen, der an einen Bisquitteig erinnert, darüber wird eine Sahnequarkcreme mit Erdbeeren und Soße verteilt. Der Biscuitteig saugt die Soße wie ein Schwamm auf und schmeckt umwerfend fruchtig.

Deb hat ihren Nursepractitioner gemacht, eine Ausbildung, die es in Deutschland noch nicht gibt. Sie ist höher angesiedelt als eine normale Krankenschwester und ermächtig sie dazu, bestimmte Medikamente selbständig anzusetzen und Untersuchungen anzuordnen. Die Ausbildung soll die medizinische Versorgung in den ländlichen Räumen, in denen es zu wenig Ärzte gibt, verbessern. Der Verdienst ist erheblich besser als der einer herkömmlichen Krankenschwester.

Beide haben beim großen Börsencrash 2008 fast ihr gesamtes Vermögen verloren. Eigentlich hatten sie vor, sich frühzeitig zur Ruhe zu setzen. Das verbleibende Geld haben sie genutzt, um die Ausbildung ihrer Kinder zu bezahlen. In den USA gibt es keine Ausbildung, wie bei uns. Wer einen Beruf erlernen will, hat zwei Möglichkeiten: Er findet entweder einen Arbeitgeber, der ihm alles Notwendige beibringt, da bekommt man aber keinen Abschluss oder man bezahlt unglaublich viel Geld für eine Schule. Das Schulgeld für eine universitäre Ausbildung kostet in der Regel etwa 100.000,- €. Wer danach keinen Job findet, ist für sein Leben pleite. Es gibt allerdings auch viele Stipendien, die unter anderem von den Kirchen vergeben werden. Ich gehe aber davon aus, dass man seinen Beitrag zum Erhalt vieler Leute Seelenheil leisten muss.

Sie wollten das Geld, das sie verloren haben, dazu nutzen zu reisen. Jetzt machen sie Pläne, wie der Lebensabend alternativ aussehen kann. Sie haben von Housesitting gehört. Leute, die einen längeren Auslandaufenthalt planen, und jemanden suchen, der auf ihr Haus aufpasst. Couchsurfing und Radfahren machen das Reisen auch preiswerter. Dann gibt es in den USA noch das Konzept der Travelnurse: Man kann als Krankenschwester drei-Monats-Verträge über Agenturen an besonderen Orten bekommen. Die Agenturen stellen auch die Unterkunft. Auf diese Weise kann man Geld verdienen und die USA bereisen.

Meine Unterkunft bei ihnen ist im Keller. Das hört sich erst mal nicht so berauschend an, ist aber eine komplett ausgebaute Wohnung, wie aus dem Magazin Schöner-Wohnen. Ich schlafe wie ein Baby.

Am nächsten Morgen bekomme ich Eds Familiengeschichte erzählt. Sein Ur-Urgroßvater ist aus Darmstadt nach Wisconsin ausgewandert. Als der Bürgerkrieg ausbrach ist er als Freiwilliger unter Generalmajor Sherman am östlichen Feldzug gegen die Konföderierten beteiligt, der siegreich gegen die Südstaaten endet. Bei diesem Feldzug kommt Eds Ur-Urgroßvater durch Cullman und bekommt einen deutschsprachigen Flyer in die Hand mit der Aufforderung, sich als Deutschstämmiger in Cullman niederzulassen. Er kehrt nach Wisconsin zurück und erzählt von dem Land, das er gesehen hat und das ihn an seine Heimat in Deutschland erinnert hat. Seine Familie packt die Sachen und kommt nach Cullman. Dort erhalten sie mehrere hundert Acres (1 Acre = etwa 4. 000 m²) Land, auf dem sie in erster Linie Erdbeeren aber auch anderes Gemüse anbauen. Der Versuch, einen Sohn zu bekommen, endete nach 8 Töchtern erfolgreich. Das Land wurde daraufhin in einen großen Teil für den Sohn und in acht etwas kleinere Teile aufgeteilt und vererbt. Eds Großvater begann für die neuen Siedler, die auf ihrer Reise in den Westen durch Cullman kamen, eine Art Kaufhaus aufzubauen. Sein Vater zog in den ersten Weltkrieg und entschied sich dort, dass ihm das Reparieren von Maschinen lag. Er ging daraufhin in Cullman bei einem niederländischen Haushaltswarengeschäft in die Lehre. In diesem Geschäft lernte der katholische Vater seine lutheranische Frau kennen, die bei seinen Eltern Hausverbot bekam. Sie heirateten trotzdem und die Kinder wurden protestantisch erzogen. Ed ging nach New York zum Studieren und kam zurück mit seiner Frau. Sie bauten ein Haus, von dem ich erst jetzt bei Tageslicht erkenne, wie groß es ist. Ich würde sagen, es ist eine Villa. Vier beheizte Garagen für zwei Autos, drei Wohnzimmer, vier Schlafzimmer (die ich gesehen habe), …

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Bankgeschäfte auf amerikanisch am Drive-In-Schalter (´Drive in´ nennen die hier ´Drive thru´)

Mein Rad landet wieder auf Eds Truck und wir machen eine Tour durch die Stadt. 2011 wurde die Stadt von einem Tornado durchquert, der eine schneise der Verwüstung hinterlassen hat. Noch immer stehen beschädigte Gebäude herum und in der Schneise hat der Tornado alle Bäume ausgerissen. (https://www.youtube.com/watch?v=85A82BK3QDU) Der Tornado ist an seinem Grundstück vorbeigezogen und hat an seinem Haus nur leichte Beschädigungen vorgenommen. Sein Nachbar allerdings hat alles verloren. Er hat sein ganzes Geld in Mobilehomes gesteckt, die allesamt weggeweht wurden. 22 Mobilehomes hat er sich im Laufe seines Lebens als Altersvorsorge angeschafft, die nun nicht mehr existierten. Mobilehomes sind in den USA die günstigste Variante, sich ein Haus zu kaufen. Sie werden in einer Fabrik vorgefertigt, auf einen Laster gepackt und an den Bestimmungsort verfrachtet. Die günstigsten gibt es schon ab 40.000,- $. Sie sind im Sommer Backöfen und im Winter Kühlschränke, wenn die Klimaanlage nicht funktioniert.

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Anschließend fährt Ed mich noch 25 Meilen aus der Stadt raus, um es nach dem gestrigen Tag etwas geruhsammer angehen zu können. „Ab hier ist es nicht mehr so hügelig.“ sagt er und meint, dass er aber zugeben müsse, dass er diese Strecke vor Jahren das letzte Mal gefahren sei. 65 Kilometer liegen auf der 278 vor mir und die ersten fünfzig Kilometer davon geht es entweder den großen Hügel rauf oder gegen den Wind runter. Egal, man muss immer strampeln. Immerhin scheint die Sonne und die Temperatur ist gerade so, dass man nicht allzu sehr schwitzt.

In Natural Bridge schaue ich mir die Natural Bridge an. Eine natürliche durch Erosion entstandene Brücke an einem Berghang. Wasser plätschert über die Klippe. Angeblich ist es die größte natürliche Brücke östlich der Rocky Mountains.

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Irgendwann tauchen plötzlich zwei Hunde an meiner Seite auf und laufen hinter mir her. Sie laufen dabei auf der Straße zwischen den Autos umher, die sich nicht genötigt sehen, langsamer zu fahren oder auszuweichen. Mir wird klar, dass es wohl deshalb so viele überfahrene Tiere am Straßenrand gibt. Ich werde immer wieder angehupt, die glauben wohl, dass das meine Hunde sind. Mehr als einmal kriege ich einen Herzanfall, wenn sich zwei Autos begegnen und die Hunde auf dem Mittelstreifen laufen. Nach zehn Kilometern treffe ich die Entscheidung 911 anzurufen. Ich halte an, die Hunde drehen um und laufen in die entgegengesetzte Richtung davon, immer schön auf dem Grünstreifen. Weg sind sie und ich denke: ´So einfach war das also`

Nach fünfzig Kilometern drängen die hohen Berge immer näher an die Straße, die einen Schlenker macht, sich an einen Fluss schmiegt und sich zwischen den Bergen hindurchzwängt ohne, wie befürchtet, diese hinaufzuklettern. Unvermittelt öffnet sich die Landschaft, der Horizont fällt herunter, Ackerland breitet sich vor mir aus und ich muss plötzlich nicht mehr die Hügel rauf und runter. Die nächsten und heute letzten Kilometer geht es fast eben vorwärts gegen den Wind.

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5 Replies to “Cullman – Hamilton”

  1. Sven

    Hey Kollege
    Ich finde es unglaublich, wie schnell sich deine Gastgeber dir gegenüber öffnen und ihr gesamtes Leben preisgeben. So offen und positiv empfangen zu werden ist glaube ich ein guter Antrieb für die nächste Etappe.
    Der kühle Norddeutsche ist da wohl zurückhaltender.

    @ Wolfgang: ERSTER ! Du Schlafmütze ?

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  2. Wolfgang

    a) haben wir hier keinen Vollmond und
    b) ist um 5:35 noch Zeit!
    c) hier ist Winter, fast mehr als die letzten Monate…

    Lieber Thomas, wie gut, dass du bisher keinen Kontakt mit einem F4 hattest, das ist nicht lustig!

    Die Hunde als Geleitschutz finde ich sehr lustig, die wollen nur spielen. Nun bist du im mittleren Westen angekommen, Mississippi steht vor den Toren! Und wenn auch der Wind weiterhin VON Westen kommt. es wird erst warm, wenn er vom Golf kommt. wir haben hat erst Ende Februar! Schau mal in die Wetterkarten, du bist definitiv in der besseren Ecke… Good Luck, lucky Man!!

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  3. hanne hartung

    Habe mir das Tornado Video angesehen.Gott sei dank werden wir davon verschont.
    Deine Aufnahmen von der Natur sind sehr Schön . Freue mich schon auf deinen Vortrag.
    Hanne u helmut

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  4. Werner Jürs

    Hallo Thomas!
    Es ist jeden Morgen 3fach spannend für mich. – ist dein Bericht da
    – wer hat das rennen beim Antworten gemacht
    – und was hast du für uns geschrieben
    Ich dachte bei dir wird es so langsam wärmer. Aber tröste dich, bei uns war es gestern auch kalt und es hat ab und zu geschneit. Die Tour war ja ein bisschen aufregend (Hunde). Die Gastgeber dafür freundlich. Da hast du dich ordentlich ausschlafen können und die nächste Etappe hoffentlich frohen Mutes beginnen können. L G M

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