Montara – San Francisco

Dann mal los auf nach San Francisco. Doch die anderen Gäste in meinem Zimmer sind scheinbar Langschläfer und wollen einfach nicht aufwachen. Ich scheue mich, dort meine Sachen zusammenzupacken und sie damit aufzuwecken. Also unterhalte ich mich nach dem Frühstück zunächst noch mit Rick, der für eine Diabetisorganisation jährlich eine Fundraising-Aktion macht. Im Ersten Jahr ist er zu Fuß von Vancouver an der Pazifikküste bis nach Oregon gewandert. Im zweiten Jahr ist er von Oregon an der Pazifikküste bis nach San Francisco gegangen. Und nun nimmt er die letzte Strecke bis zur mexikanischen Grenze in Angriff. Er sei nun berentet und habe die Zeit dafür. Es ist sein zweiter Morgen auf dieser Tour und ich bin beeindruckt; was ich heute an einem Tag mit dem Fahrrad zurücklegen werde, hat er gestern zu Fuß erledigt. Er kämpft mit seinem neuen Handy und flucht: „Hätte ich dch bloß mein Iphone mitgenommen“, er hatte Angst, dass es auf dieser Tour kaputt gehen würde und hat sich deshalb einen billigen Ersatz organisiert. „Wie lädt man damit ein Video hoch?“ fragt er mich und ich sag ihn: „Frag Jürgen!“ Er versteht mich nicht.

Er macht sich auf den Weg und meine Kollegen aus Zimmer drei sind immer noch nicht aufgewacht. Ich schnappe mir mein Skizzenbuch, setze mich auf den Weg, von dem man den Leuchtturm und die wunderschöne Zypresse sehen kann und beginne zu zeichnen. Ben, der Rezeptionist, stürzt heraus und bittet mich euphorisch, dass er die Zeichnung gerne sehen würde, wenn sie fertig ist und ich sichere ihm dies zu. Er berichtet mir, dass er von der Ostküste aus Main hierher gekommen sei, weil er Surfer sei. Vor einem Jahr habe er hier diesen Job angenommen, aus dem nun mittlerweile ein festes Arbeitsverhältnis geworden sei. Er sagt das entschuldigend und ich sehe ihn fragend an. Er erklärt mit einer ausladenden Geste auf die Umgebung draußen, das es hier so schön sei, dass es irgendwie sein Traumjob sei, hier zu arbeiten. Nach einem Frühdienst, habe er noch Zeit, zum Surfen zu gehen aber insgesamt sei es halt wenig herausfordernd. „Hier kann man den ganzen Tag die Seele baumeln lassen“ meint er und ich ergänze im Kopf, was er nicht sagt, dass das eine gänzlich unamerikanische Attitüde ist. ´Work hard, play hard´ ist das amerikanische Leitmotto vieler Menschen, die ich auf meinem Weg getroffen habe.

Während ich zeichne, sehe ich Ruud drinnen am Frühstückstisch sitzen, mein Zimmer ist unter den Lebenden. Mit Ruud aus den Niederlanden habe ich mich gestern schon unterhalten. Er arbeitet in Utrecht an der Uni als Psychologe in der Forschung. Er kennt die Uni Kiel, die Psychologie auch als Naturwissenschaft betreibt. Er sei letzte Woche mit seiner Frau nach San Francisco gekommen, um seine Tochter zu besuchen, die für ein Jahr in Berkeley studiert. Sie habe nach Europa zurück gemusst und er verbringe nun noch zwei Wochen hier. Ich bewundere seine Gelassenheit. Seine Art zu reisen unterscheidet sich von meiner sehr, er macht alles viel langsamer. Er geht zu Fuß zum drei Kilometer entfernten Laden einkaufen, verbringt hier im Leuchtturm drei Tage und wandert jeden Tag in eine andere Richtung, dann fährt er mit dem Bus zurück nach San Francisco, leiht sich ein Fahrrad und fährt damit nach Santa Cruz. Für mich gab es in den letzten Monaten nur ein immer weiter in die Ferne, jeden Tag auf den Bock und weiter in Richtung San Francisco. Ich kann nichts anfangen mit einem anderen Tagesablauf und einer anderen Geschwindigkeit.

Gegen den Wind geht es langsam nach Norden. An zwei Stränden halte ich an und wandere jeweils eine halbe Stunde am Wasser entlang; doch es muss in meinem Kopf noch weiter gehen und so setze ich mich wieder auf´s Fahrrad und trete gegen den Wind an. Nach 25 Kilometern stelle ich fest, dass es erst 11:00 Uhr ist und ich schon über die Hälfte des Weges zurückgelegt habe. Plötzlich kann es nicht langsam genug gehen. Die steilste Straße meiner ganzen Tour liegt vor mir. Auf 500 Metern geht es sage und schreibe 130 Meter höher, ich lege vier Pausen ein, unterhalte mich mit einem Anwohner über die tolle Aussicht und mit Gärtnern über den Wind: total unüblich zu dieser Jahreszeit aber dafür werde ich die Golden Gate Bridge sehen können.

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Wenig später kann ich sie auch in der Ferne kurz über den Dächern der Häuser erspähen. Ich wollte ein Foto machen, wenn ich sie das erste mal sehe, doch ich finde die Stelle nicht wieder. Im Schneckentempo fahre ich weiter, einen Hügel hoch und dann bin ich in San Francisco, ganz klar, die Häuser hier sind so vertraut aus den Filmen und Serien. Kleine Reihenhäuser mit zwei Etagen, bunt aus Holz, eng aneinander gedrängt. In eine Seitenstraße, um eine Kurve und dann springt sie mir das erste mal entgegen, unübersehbar: Die Brücke. Auf einer Hügelkuppe, treffe ich David und Mark und bitte sie, ein Foto von mir zu machen, mit der Brücke im Hintergrund. Sie freuen sich über meine Ankunft in San Francisco. Ich bin seltsam gefasst.

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Wenige Meter weiter höre ich Deutsche Sprache. Kerstin und Jörg überrasche ich mit der Feststellung, dass sie aus Münster sind. Sie sind eher geschockt, dass sie einen Münster-Akzent haben, weil sie den als Zugereiste niemals haben wollten. Sie sind seit langem wieder in den Staaten und wiederholen die Reise von 1996. Nichts ist mehr so, wie sie es in Erinnerung haben. Sie sind gerne in Kontakt mit den Einheimischen und ich erzähle von Couchsurfing. Sie machen sich auf den Weg zur Bushaltestelle und ich fahre weiter. An der Aussichtsplattform für die Golden Gate Bridge mache ich Fotos und stehe dann lange da und schaue die Brücke an. Irgendwann rollen mir dann ein paar Tränen über die Wangen, weil ich merke, dass es nun vorbei ist. Noch drei vier Kilometer zu meinem Host, dann kann ich das Fahrrad einpacken. Es geht nicht weiter…

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Die Ruhe, die einkehrt scheint wie das Ende einer Ära und der Aufbruch in eine Ungewisse Zukunft. Was kommt nun?

Curt wohnt wenige Meter von den Kreuzfahrtterminals entfernt im ersten Stock eines typischen zweistöckigen Hauses. Er wurde vor zwei Wochen am Rücken operiert. Als Kind wurde eine Skoliose mit Metallimplantaten begradigt. In den letzten acht Jahren haben sich die Spätfolgen der Skoliose wieder bemerkbar gemacht und eine weitere große OP war nötig geworden. Zwölf Stunden hat er auf dem Tisch gelegen und drei weitere Wirbel wurden mit Scharnieren und neuen Bandscheiben in die ihnen zugehörige Position gebracht. Alles läuft nach Plan er kann täglich drei Stunden auf den Beinen sein. Gestern hat er es übertrieben und in der Nacht dafür große Schmerzen gehabt: Heute ist er vorsichtiger.

Tele, ein Freund aus Brasilien, ist zu Besuch und kümmert sich um ihn. Weil Curt bis vor zwei Wochen noch in einem 11 m2 Loch in Chinatown gewohnt hat, muss er nun mit Freunden zusammen seinen Umzug bewerkstelligen. Tele wird von einem Zimmer ins nächste geschickt, Sachen zu holen und sortieren.

Ich mache mich auf den Weg in die Valencia Street. Dort betreibt Bernhardt ein Vintagegeschäft. Bernhardt ist Deutscher und ein Freund von Gesine, die ich gefragt habe, ob ich bei ihr unterkommen könnte. Wir wollen uns eigentlich an einem Abend treffen und kochen und um die Verabredung dingfest zu machen suche ich sein Geschäft auf, das dann allerdings geschlossen hat.

Die Fahrt offenbart jedoch die Fahrradbesessenheit der Friscoianer. Auf der Market Street sammeln sich an jeder Ampel etwa zwanzig bis dreißig Radfahrer, eine nervöse Stimmung macht sich breit und jeder versucht die beste Startposition zu bekommen. Rennräder sind die Regel und auf Grün geht es los, jeder tritt was das Zeug hält in die Pedalen um dann zwei Blocks weiter an der nächsten roten Ampel das Spiel zu wiederholen. Man drängelt sich an Bussen vorbei, schneidet hemmungslos Autos, zeigt Fahrtrichtungswechsel nicht an, Licht an Fahrrädern gibt es nicht, alle tragen Helme, was auch besser ist und das wichtigste: alle sind aufgebrezelt. Radfahren ist eine Lebenseinstellung und die ist IN, man ist Trendsetter, Jung, Erfolgreich, Reich, Elitär, Snob und gut gekleidet. Keiner schaut den anderen an, alle blicken nach vorn, ´Achtung hier komme ich´, doch manchmal kriege ich die Blicke auf mein altes Mountainbike mit den dicken Reifen und den permanent leuchtenden, fest installierten Lampen und dem Typen, der mit den Rennrädern mithalten kann mit.

Einkaufen bei Trader´s Joe (die liefern für Aldi in Deutschland unter anderem die Nusswaren) und dann in die Francisco Street. Ich koche für alle, während Tele und Curt weiter Sachen einräumen und sortieren.

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7 Replies to “Montara – San Francisco”

  1. Werner Jürs

    Hallo Thomas!
    Ich sitze hier, und bin auch fast am heulen. Du bist mein Sohn. Genauso habe ich mir dein ankommen in SF vorgestellt. Nur der Hintergrund war für mich offen.
    Du hast es geschafft. Ich hätte dich gerne in SF als Überraschung begrüßt. Jetzt musst du dich in die Langsamkeit umgewöhnen. Mache etwas schönes, gehe in ein Museum. Setze dich hin, lasse einige Dinge lange auf dich einwirken und schraube dein Tempo zurück. Dein Zeichenblock hilft bestimmt dabei.
    Wie ich heute Nacht schon geschrieben habe, es hat bei uns geschneit. So viel Schnee haben wir den ganzen Winter nicht gehabt. Blühender Tulpenbaum im Schnee gab es noch nie.
    Ich hab mal wieder gut reden. Aber vielleicht hilft es dir ein wenig.
    Mach es gut (laaaaaaangsaaaaam) und bis bald. VLG Mutti + V.

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  2. hanne hartung

    Hallo Neffe!
    Geschafft! Was kommt jetzt? Gerade habe ich heute beim Mittagessen, Helmut gefragt,ob Dir das
    Radeln wohl fehlen wird und ob Du in ein großes Loch fallen wirst? Aber erstmal kommt die Freude
    auf zu Hause. Wir sind stolz auf dich.
    Bis bald,Helmut u Hanne
    Bring bloß dein Fahrrad mit ,komm nicht auf den Gedanken es dort zu lassen .So einen treuen
    Drahtesel lässt man nicht zurück!

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  3. Christine

    wow – was für eine Leistung… quer durch die USA. Du hast es geschafft. Ich kann nachfühlen, dass Du in das „Angekommen-Loch“ gefallen bist…

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  4. Wolfgang

    Du bist am Ziel => Respekt und Hochachtung vor dieser Leistung. Auch wenn die eigentlichen Etappen nicht immer nach viel Strecke geklungen haben, aber in der Gesamtheit?? Und dann das Ganze mal noch von der Seite betrachtet, dass Du nicht nur die Meilen gerissen hast, sondern einen umfassenden Eindruck von Land und Leuten erhalten hast. Sicherlich kein Querschnitt, aber deutlich mehr, als wir uns mit unserer „geführten“ Meinung so einbilden können…
    … wie soll ich Dir bloss in Hennstedt wieder gegenüber treten? Ich hoffe, Du bist trotz allem immer noch der gleiche Thomas, den ich kenne und schätze und den ich in den letzten Wochen und Monaten auf (gefühlt) Schritt und Tritt verfolgt habe. Wieviel Platz musstest Du in deinem Kopf und auf deinen SD-Karten freigeben, um all die Eindrücke und Bilder der letzten 90 Tage abzuspeichern und zu verarbeiten?
    WaWo freuen sich, dich bald wieder in die Arme zu schliessen: in Hennstedt, in Berlin, wo auch immer!!

    Dein Blog hatte schon einen bemerkenswerten Epilogue – auf die Reprise bin ich dann aber auch noch gespannt! Und auf den/die Bericht/e der kommenden Urlaubs-Tage in San Francisco!

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  5. Elke

    Auch von mir herzlichen Glückwunsch. Du hast es geschafft! Und wie Wolfgang hoffe auch ich auf Berichte über die Zeit nach der Schlussetappe in SF und vor deinem Heimflug. Dir noch gute Tage in Kalifornien!

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  6. Sven

    Herzlichen Glückwunsch zu dieser fantastischen Leistung! Lass es langsam ausklingen und genieße die Tage in Sonne und Wärme ?
    Ich freue mich auf dich.

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