Shamrock – Groom

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Irgendwas ist merkwürdig heute. Um 9:00 Uhr bin ich auf der Piste und fahre den ganzen Tag bis ich um 16:00 Uhr in Groom am Motel bin. Bei nur 91 Kilometern ergibt das eine Durchschnittsgeschwindigkeit von nur 13 km/h, was überhaupt nicht meiner gefühlten Geschwindigkeit entspricht. Ich komme mir viel schneller vor.

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Ich fahre den ganzen Tag eine leichte Steigung hinauf. Ich starte bei etwa 700 Metern Höhe und Ende bei 996 Metern über Normal-Null, bin also auf jedem Kilometer fast drei Meter höher geklettert. Der Wind kommt am Anfang noch leicht von hinten. Ich kann mein Glück gar nicht fassen und habe die Beführchtung, dass dies für Louisiana nichts Gutes bedeutet (siehe gestrigen Bericht). Die letzten zwanzig Kilometer steigert sich der Wind jedoch und bläst mir kräftig entgegen.

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Die Landschaft wandelt sich und diesmal so deutlich, dass ich nicht daran zweifle, eine neue Landschaft zu erobern. Anfangs wirkt die Landschaft wie die Tage zuvor: Bäume, ab und zu zu Wäldern zusammengerodet, Hügel und Täler. Je höher ich jedoch komme, desto weniger Bäume sind zu sehen und nach sechzig Kilometern werden die Täler doch deutlich weniger und die Landschaft noch mal ebener. Ich vermute, dass der Bratpfannenboden nicht mehr lange auf sich warten lässt.

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I 40 mein ständiger Begleiter.

Ich bin zum Teil von den Aussichten, die sich mir bieten, überwältigt. Gelbe Graslandschaften, von steilen Tälern durchschnitten, und blauem Himmel darüber. Kühe, die weit zerstreut grasen, und immer wieder diese Windmühlen, die das Wasser aus der Tiefe pumpen. Bei diesen Windmühlen muss ich immer wieder an den Benke-Hof in meinem Herkunftsdorf denken. Dort stand auch so eine Windmühle. Jedesmal denke ich an Benke. An Menschen wie Benke denkt keiner mehr in unserer Zeit. Benke war ein Kriegsversehrter. Er verließ sein Haus nicht oder nur sehr selten zu einem kurzen Einkauf. Er sprach mit Niemandem, war der Einsiedler des Dorfes. Eine Kugel oder etwas anderes schreckliches hat ihm die untere Gesichtshälfte zerfetzt und zu einer Fratze zusammenwachsen lassen, die uns Kindern eine unheimliche Angst gemacht hat. Dazu beigetragen hat, dass er keine Menschen auf seinen Wiesen haben wollte. Immer, wenn man seinem Hof zu nahe kam, rannte er raus, humpelte mit fuchtelden Armen auf uns zu, und schrie, durch sein verzehrtes Gesicht, für uns unverständlich, auf uns ein.

Er ist für mich der Inbegriff eines Bildes vom Krieg. Mir war immer klar, dass er schreckliches erlebt haben muss, etwas, das einen Menschen so in die Isolation und Sprachlosigkeit bringt, muss fürchterlich sein. Es gab in unserem Dorf noch einen Mann, dem eine Bein fehlte. Die Kriegsversehrten sind früh gestorben und kaum einer von ihnen lebt heute noch, aber es hat sie gegeben. Daran muss ich heute immer wieder denken, bei jeder Windmühle.

Ein anderer Gedanke, der mich immer wieder verfolgt, ist, wie die frühen Siedler mit ihren Planwagen den Weg vom Osten in den Westen gefunden haben. Die Landschaft ist seit meinem Start in New York von so vielen Hindernissen (Flüsse, Täler, Berge, …) durchsetzt, dass es unmachbar erscheint, auch nur zehn Kilometer vorwärts zu kommen. Ich denke jeden Kilometer darüber nach, wie man dieses oder jenes Hindernis mit dem Planwagen umgehen kann. Ich komme zu dem Schluss, dass es Wegbeschreibungen gegeben haben muss, Karten, die von Mund zu Mund weitergegeben werden mussten. In Europa wurden die ersten Straßen von den Römern gebaut und als die Siedler Amerika eroberten, gab es keine Straßen. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts wurden in Amerika vermehrt Straßen gebaut. Wie haben die das bloß gemacht?

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Sonst gibt es nicht viel zu erzählen. In die Pedale treten und die Landschaft bestaunen, das war es heute…

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5 Replies to “Shamrock – Groom”

  1. Wolfgang

    Oh, du warst bei der Tankstelle, wie schön!

    Ich staune immer wieder, wie viele Autoleichen dort so rumstehen oder im Wald vergammeln. Ist das wirklich so und suchst du diese speziellen“ Plätze? Das hat ja auch was mit Umweltverschmutzung zu tun – was ich nicht mehr brauche, lasse ich liegen. So wie die verlassenen Behausungen etc. etc….

    Die Trekkies vor gut 200 Jahren hatten jedenfalls noch keine APP und kein GPS, sicherlich sind auch viele „auf der Strecke“ geblieben oder aber haben eben genau diese Siedlungen gegründet, die sich heute entlang deines Weges ziehen.

    Ich habe mal geschaut, wie hoch du noch musst: ich sage nur, da kommt noch was. Gestern habe ich mal ein kleines Bild in die Kommentatorengruppe gepostet, damit wir eine Idee von der Sache mit dem ewigen Bergauf haben….

    An dieser Stelle: Glück auf und immer Öl auf der Kette! Buy local in Texas und New Mexico 🙂

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  2. hanne hartung

    Ach ja,der alte Herr Bencke!Vor dem hatten wir als Kinder auch viel Angst.Immer wenn ich morgens
    mit dem Rad zur Schule fuhr,fuhr er ebenfalls mit zwei vollen Milchkannen am Lenker ,zur Meierei.
    Deine Gedanken,über die Siedler mit ihrem Planwagen,habe ich schon vor längerer Zeit gehabt.
    Klappt es jetzt mit deinem Sonnenschutz.? Wäre schade,wenn wegen einem Sonnstich, keine Berichte
    mehr kommen . Weiterhin gutes radeln auf dem Bratpfannenboden.
    hanna u helmut

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  3. Werner Jürs

    Hallo Thomas!
    Man, gibt es viele zertretende Käfer. Die scheinen ja wohl ein ständiger Begleiter zu sein.
    Wie ich die ersten Rinder sah, musste ich an die alte Schnulze „Siebentausend Rinder, Kinder, Kinder….“ denken.
    Bei den Grassteppen habe ich auch so einige Bilder aus alten Westernfilmen vor Augen gehabt. Muss eine harte Zeit gewesen sein. Wo ich auch oft dran denken muss, das die Einwanderer sich mit den Ureinwohnern nicht arrangieren konnten. Das Land ist doch so weit. Gut ,das wussten die Neuankömmlinge nicht. Macht und Gier haben ja wohl eine große Rolle gespielt.
    Ich schreibe schon wieder so viel. Das kommt daher, weil wir nicht miteinander reden können.
    Gute Fahrt, und keine trüben Gedanken aufkommen lassen. Die Pampa ist groß. Vielleicht will V noch was schreiben.
    Später! Jetzt will ich erst mal deinen Bericht lesen!!!
    Gruß V+M

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  4. Werner Jürs

    Die „Pampa“ dünn besiedelte, einsame, abgelegene Gegend, und auch ein Ort „Pampa“, Texas 79065, USA:
    zur Erklärung für die Berichte. Für deine weitere Fahrt wünsche ich dir gute Ausdauer und Kondition
    „Wenn der Wind des Wandels weht, bauen die einen Schutzmauern, die anderen Windmühlen.“
    Fehlt es am Wind, so tritt in die Pedalen!
    Gruß V

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